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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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und Hagen Schlemmer, ein schweigsamer Schlaks mit Nickelbrille und einer Haut, der man ansah, daß sie kaum aus dem Bastellabor kam, waren die besten in Mathematik, Schlemmer und Falk Truschler in Physik, an der Verena kaum Interesse zeigte, Siegbert und Christian in Englisch, Swetlana in Russisch und Staatsbürgerkunde, Reina Kossmann in Chemie, Heike Fieber war Herrn Feinoskars, desZeichenlehrers, ganzer Stolz. Bei Hedwig Kolb aber entwickelten alle Schüler Ehrgeiz; den besten Aufsatz zu schreiben war eine schwierige, umkämpfte Sache, von Hedwig Kolb gelobt zu werden glich einem Ritterschlag. Christian war der beste Aufsatz zweimal gelungen, vielleicht rührten Verenas Anspielungen auf seine angebliche Hochnäsigkeit daher. Im ersten Aufsatz hatten sie über Büchners »Woyzeck« zu schreiben gehabt, Christian hatte die Klassenkampf-Interpretation beiseitegeschoben und sich mehr für Macht und Ohnmacht in dem Stück interessiert, den Aufsatz hatte er als szenischen Dialog, in Blankversen, angelegt. Hedwig Kolb hatte ihn darum gebeten, den Aufsatz behalten zu dürfen hatte eine Hektografie davon angefertigt und am Schwarzen Brett ausgehängt, worauf Christian stolz gewesen war. Verena, Swetlana und auch Siegbert hatten sich darüber geärgert und Christians Aufsatz, speziell die mißglückten Verse, mit spitzen Kommentaren bedacht … Auch Siegbert war es zweimal gelungen, den besten Aufsatz zu schreiben; einmal Verena (»Wiedergeben von Eindrücken«: Sie hatte über ein Gemälde der IX. Kunstausstellung, 1982 im Albertinum in Dresden, geschrieben); einmal Heike Fieber, die in Deutsch und in Kunsterziehung aus der tranceähnlichen Schläfrigkeit erwachte, in der sie durch die anderen Fächer floß. Wie eine große, samtfingrige Alge, dachte Christian, wie etwas Durchsichtiges, das sich in einem klaren See ausbreitet. Fließend: wie die Farben in einem Aquarell. Heike faszinierte ihn, denn ihre Gedanken schienen in anderen Bahnen als den üblichen zu verlaufen. Es konnte sein, daß sie sich meldete; Hedwig Kolb, verblüfft über diese ungewohnte Aktivität, erteilte ihr sofort das Wort, aber Heike kümmerte sich nicht um die Frage, die gestellt worden war, sondern sagte: »Ich habe mir eben überlegt, was die Konsequenz wäre, wenn plötzlich alle Menschen blaue Ohren bekämen.« Dann ließ sie den Arm langsam sinken, schüttelte ihre Mähne zurecht, eine für sie charakteristische Geste: als wollte sie etwas loswerden, schwere, immer wiederkehrende Träume, etwas, das im Widerspruch stand zu ihrer Stupsnase und den Hunderten Sommersprossen im Gesicht; sie blickte versonnen und ernst auf Hedwig Kolb, die ebenso ernst, doch mit einer Spur Erstaunen, zurückblickte: »Ja, Heike … aber ist denn das möglich, haben Siedarüber etwas gelesen?« Heike hatte bei diesem Aufsatz das freie Thema gewählt und geschrieben: »Alles ist durch Säfte. Wenn etwas schiefgeht, dann durch Schiefheit bei den Säften. Blut ist ein ganz besonderer Saft, wie schon Goethe sagte. Es gibt eine Saft-Vertikale und eine Saft-Horizontale. Dann gibt es die Saftläden, und außerdem gibt es die Saftverbrechen. Wir leben im ZEITALTER DER SAFTVERBRECHEN.« Es folgte, mitten im Text, eine Zeichnung, ein genialisches Gestrüpp farbiger Linien, Schlangen mit Pfeilspitzen, die aufeinander zeigten – in der Entfernung ordnete sich das scheinbar wirre Gekritzel zu einem traurigen bärtigen Gesicht. »Wir müssen die Saftverbrechen bekämpfen!« stand darunter. Auch um diesen Aufsatz bat Hedwig Kolb. Sie hatte ihn mit »Ganz ausgezeichnet!« bewertet, aber nicht ans Schwarze Brett gehängt. In Klammern hatte sie in roter Maiglöckchenschrift hinzugesetzt: »Ungewöhnliche Verknüpfung von Text und Bild!«

28.
Schwarzgelb
    – Kreisende Schallplatte , schrieb Meno, die Hände Niklas Tietzes bleiben noch Augenblicke über dem wippenden Wiegen der Platte stehen (und hörte die Spieluhr: Dresden … in den Musennestern / wohnt die süße Krankheit Gestern), es ist dunkel im Raum, nur das Punktlicht über dem Plattenteller brennt und wird von der drehenden Dünung zerstreut, versponnen und wieder zerstreut, wie wenn ein Männchen an einem Spinnrad säße und Stroh zu Gold spänne; Niklas führt die Nadel über den Plattenrand, noch verharrt sie, ein winziges, zum Zustoßen bereites Stilett, ein gleißendes Häkchen, das die Musik, wie ich als kleiner Junge mir vorstellte, am Kragen packen, sie, wie ich jetzt manchmal denke, aus der Rille schälen wird wie

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