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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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für diejenigen, vor denen er es tun mußte, für ihre tauben Ohren. Musik war ihm alles, er liebte sie, so schien es Christian, mehr als manche Menschen; vielleicht auch deshalb, weil alles, was sie sagte, klar war, eine Sprache, in der es keine Mißverständnisse gab. Er verzerrte das Gesicht, wenn jemand unrein sang, und lächelte, wenn er im Unterricht seine wie Schätze gehüteten Schallplatten auflegte und Swjatoslaw Richter ein Stück aus dem »Wohltemperierten Klavier« spielte. Dann kam ein anderer Uhl zum Vorschein, weicher, milder, ein verwundeter und wissender Mann. In den »Kultursälen« gab es neben der Halle noch einen Raum, den Uhl das »Kabinett« nannte und wo »in intimem Rahmen«, wie an den Litfaßsäulen zu lesen stand, Aufführungen von Kammermusik, Diavorträge – auch Christians Großvater war vor einigen Jahren hiergewesen und hatte einen Lichtbildabend über Amazonas-Indianer gehalten – und vom Verband der Geistestätigen des Bezirks Dresden organisierte Lesungen stattfanden. Diese Kulturabende, vor allem aber die von Uhl persönlich betreuten Konzerte und Kammermusikaufführungen, genossen einen guten Ruf, sie strahlten bis nach Karl-Marx-Stadt und tief ins Erzgebirge aus; das Waldbrunner Publikum befand sich oft in der Minderzahl, Anrecht und Freiverkauf gingen nach Glashütte und Altenberg, erreichten die Grenzorte Zinnwald, Rehefeld und Geising, zweigten sich sogar bis in die ČSSR nach Teplitz, aus dem ein konzertfanatisches Ehepaar regelmäßig kam, liefen bis nach Freital und Dresden, von wo Abonnenten per Auto und Bus nach Waldbrunn fuhren, gingen nach Flöha, Freiberg, Olbernhau, ins Westerzgebirge bis Annaberg-Buchholz. Es war das Ergebnis von Uhls Bemühungen. In den Ferien nämlich galt ein Abkommen mit den Städtischen Verkehrsbetrieben Waldbrunns, die ihm einen Omnibus, ein ausgedientes und klappriges IFA-Modell, nebst Fahrer zur Verfügung stellten, um im Erzgebirge »Kulturarbeit zu leisten«. Uhl fuhr nicht in den Urlaub, nie hatte ihn jemand von der Ostsee oder vom Balaton, von einem Ferienheim des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds inGraal-Müritz oder Erholungsheim Verdienter Pädagogen sprechen hören, nie hatte jemand von ihm eine Ansichtskarte von der Insel Rügen oder vom Müggelsee bekommen. Uhl und seine Frau, die in Glashütte als Musiklehrerin arbeitete, tuckerten in den Sommermonaten und auch in den Herbstferien mit dem IFA-Bus, allgemein »Oswald Uhls Musikbus«, von poetischeren Humoristen auch »Die Fahrende Musik« genannt, über die Erzgebirgsdörfer und brachte den Kindern »die Klassische Musik nahe«. Daran mußte Christian denken, in seinem Versteck eingangs der Lohgerbergasse. Doch Uhl hätte etwas zu ihm gesagt, wenn es in den »Kultursälen« ein Konzert gegeben hätte, denn nicht nur hatte er Christian, seines Cellospiels wegen, ins Herz geschlossen, sondern auch sofort in verschiedene seiner Umtriebigkeiten eingeplant. Außerdem waren Verena und Siegbert für einen Konzertbesuch zu leger angezogen gewesen. Christian stand reglos, atmete sekundenlang, als hätte er schwere körperliche Arbeit getan, dann hielt er den Atem an und merkte es erst am zunehmenden Pulsschlag.
    Er war in die Bibliothek unterwegs, seltsam unruhig verließ er sein Versteck, ging über den Markt, an der Kirche auf der anderen Seite, am Lutherdenkmal vorbei, bog in die Seifensiedergasse ein, an deren Ende die Städtische Bibliothek in einem Fachwerkhaus mit vielen Giebelsprüchen, Wetterhahn und dem bronzenen »Seifensieder-Hans« über der Tür untergebracht war; früher war es das Innungshaus der Waldbrunner Seifensiederzunft gewesen. Er hatte noch zwanzig Minuten, die Bibliothek schloß um achtzehn Uhr. Im Vorraum, wo die Aus- und Abgabe-Theke neben einem mächtigen Kachelofen stand, diskutierte die grauhaarige Bibliothekarin mit einem ängstlichen Thälmann-Pionier, der eine Reihe gebundener »Digedag«-Hefte in offenbar desolatem Zustand zurückgegeben hatte, der Schärfe nach zu schließen, mit der die Bibliothekarin dem Jungen ihre Mißbilligung zu verstehen gab: »Schokoladeflecken« und »Eselsohren« ächzte sie, die Bände durchblätternd. Sie machte einen Vermerk in der Karteikarte des Jungen, und Christian wußte, daß der nun »erledigt« war, nie wieder würde er in dieser Bibliothek »Digedag«-Hefte ausleihen dürfen. Sabine Winkler kam, nahm Christians Bücher ab. Sie hatte keine Ähnlichkeit mit ihrer Schwester,niemand, der es nicht wußte, hätte die

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