Der Turm
beiden zusammengebracht. Sabines Haar war blond, jetzt unter einem Tuch mit Batikdruck versteckt, draußen würde sie es abnehmen und aller Welt ihren Irokesenschnitt zeigen. Sie trug Nietenjeans, eine Motorradlederjacke, die ihr ein Patient ihres Vaters im Tausch gegen eine kostbare ABBA- und eine etwas weniger kostbare Platte von Oscar Peterson aus der Jazz-Reihe von »Amiga«, mit dem orangefarbenen »J« auf der Plattenhülle, überlassen hatte, und ein paar Nummern zu große Männerstiefel, die sie in der Abteilung »Für den jungen Mann« des »Centrum«-Warenhauses in Dresden erstanden hatte. Sabine Winkler bezeichnete sich als »erste Punkerin des überaus toten Kaffs Waldbrunn«, Christian war für sie, genau wie ihre Schwester und ihre Eltern, »Stino«, ein »stinknormaler Mensch«. Sie nannte ihn Chris, das war für ihn der schrecklichste seiner Spitznamen; er mußte an Chris Doerk denken, einen Schlagerstar der sechziger Jahre, die mit ihrer Dosenrosenstimme den staatlich anerkannten Schnulzengalan Frank Schöbel begleitet und in zwei DEFA-Filmlustspielen mitgewirkt hatte. Ostsee-Sommerfilmtage, in Reih und Glied ausgerichtete Strandkörbe, der rote Sturmball auf halbmast. Zeltkino, Essenausgabe, Büfett, das aus Plastschüsseln mit erschlafftem Gurkensalat bestand. Eine Provinz-Combo spielte im Gemeinschafts-Speisesaal, und in einem Buch aus der Ferienlager-Bibliothek, »Sally Bleistift« von Auguste Lazar, hatte er einen Liebesbrief entdeckt … Sabines Begrüßung riß ihn aus seinen Gedanken. »He, Chris, in ’ner Viertelstunde ist Feierabend, und ich hab’ kein’ Bock, wieder längerzumachen wie beim letzten Mal, bloß weil du dich nicht auskäsen kannst!«
Christian nickte, ging in den hintersten Winkel der Bibliothek, wo die Philosophen schliefen. Er versuchte die Gedanken an Verena und Siegbert zu verdrängen, indem er sich zwang, die Titel der Bücher zu studieren; es waren äußerst langweilig und trocken klingende Titel mit vielen lateinischen Begriffen darin; er fand, was er suchte, in einer staubigen Ecke mit besonders langweilig und trocken klingenden Titeln, aber er brauchte einiges davon, um sich auf eine anstehende große Klassenarbeit in Staatsbürgerkunde vorzubereiten, bei der man voraussichtlich nicht »sülzen« konnte, sondern »Fakten darlegen« mußte.
»He, Chris, was ist los mit dir? Du müllst mich ja gar nicht zu wie sonst!« Sabine knallte die Ausleihdaten in das eingeklebte Stempelfeld seiner Bücher. »Mann, was für Schwarten wir hier haben.«
Am 1. Mai hatte ganz Waldbrunn geflaggt. Ein Mitglied der Volkskammer, Vertreter der Kreisparteileitung und des örtlichen Stützpunktes der befreundeten sowjetischen Streitkräfte standen auf der Tribüne, die auf dem Marktplatz aufgebaut worden war; die Schüler der Waldbrunner Schulen zogen in mehreren Reihen an den winkenden Volksvertretern vorbei. Der riesige Karl-Marx-Kopf, an dem die »Arbeitsgemeinschaft Junger Künstler« der Maxim-Gorki-Schulen bis zuletzt gemalt hatte, glänzte auf der meterhohen Leinwand über der Tribüne, ein aus je fünf Kilogramm Gold- und Silberfarbe geschmiedeter Totemschädel, ein mythischer Ahn auf einem Segel, das Segel der »Kon-Tiki« von Thor Heyerdahl, dachte Christian, der in einer Reihe mit Siegbert und Jens lief. Ein Floß, das zur Sonne treibt. Sie fluchten unter der Last des Transparents, einer zehn Meter langen Stoffbahn mit der Parole »All unsere Kraft zum Aufbau des sozialistischen Vaterlands«, die alle zwei Meter von einer Haltestange gestützt wurde. Wenn der Wind auffrischte, mußten die fünf Schüler all ihre Kraft in die Haltestangen stemmen, das Transparent blähte sich und knatterte wie die Flügel eines ungebärdigen Drachens. Trommeln tuschten, vorn lief ein Zimbeln- und Schalmeienchor mit Tambour und Tschingderassabumm, Christian sah den Stab wirbeln und blitzen. Jetzt wurden Fanfaren zuseiten der Tribüne gehoben; Fahner schrie Kommandos ins Mikrofon, aus tausend Schülerkehlen hallte die Lobpreisung der Zukunft, in der es keine Ausbeutung und Unterdrückung mehr geben würde, nie mehr, für immer lichte Zeit. Fahner verkündete stolze Statistiken, die Lautsprecher sirrten; unberührt, wie von einer Wand aus Glas vom Aufmarsch getrennt, läuteten plötzlich die Kirchenglocken; die Schüler schwitzten.
Jede Unterrichtsstunde schien jetzt aus Forderungen zu bestehen. Frau Stesny blickte besorgt auf ihre Schützlinge, wenn sie das Abendbrot schweigend in sich
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