Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
hineinschlangen, während sie mit dem Zeigefinger über Zeilen danebenliegender Bücher fuhren. Wenn sie um zweiundzwanzig Uhr Nachtruhe anordnete,wurde in den Zimmern der 11. Klassen das Licht gelöscht und bis hundert gezählt, dann würde Frau Stesny weit genug entfernt sein, um das wieder eingeschaltete Licht nicht mehr sehen zu können. Schnürchel verlangte Aufsätze über sowjetische Kinofilme, von denen sie manchmal im Unterricht einen sahen: Immer ging es um den Großen Vaterländischen Krieg, um patriotische Partisaninnen, die entschlossen nach den Gewehren der Pflicht griffen; um Soldaten in beinahe aussichtsloser Lage, die sie mit schier übermenschlichem Willen und kraft ihres festen Klassenbewußtseins doch noch meisterten. Engelmann flatterte und pflügte durch die Klasse, prüfte Jahreszahlen der Komintern, die Unterschiede zwischen absoluter und relativer Wahrheit, die Rolle der Produktivkräfte in der entwickelten kapitalistischen und sozialistischen Gesellschaft. Uhl forderte die »Moorsoldaten« und »Ich hört ein Sichelin rauschen« auswendig. Dr. Frank verlangte Vorträge über den Fortpflanzungsmechanismus der Farne. Nur Hedwig Kolb, die Lehrerin für Deutsch und Französisch, schien nichts zu fordern. Nicht nur deshalb liebten die Schüler der 11/2 sie. Im übrigen forderte sie doch, aber sie forderte nicht fordernd. Sie betrat das Klassenzimmer wie eine vergeßliche Elfe, blieb, noch die Klinke in der Hand, versonnen stehen, unbekümmert um den Lärm, den die auf ihre Plätze eilenden Schüler machten, schaute zart und befremdet, Klassenbuch und Unterrichtsmaterialien hoch unter den Arm geklemmt, auf einen Helligkeitsfleck auf dem Fußboden, ein besonntes Traumtellerchen, auf dem sie vielleicht ein paar Kobolde entdeckt hatte, die ihr die Zunge herausstreckten; dann besann sie sich, probierte den Raum bis zum Pult – Christian mußte an eine Gazelle denken, die von einem ungerührten Zauber auf das Eis eines Sees versetzt worden war –, legte die Bücher ab und zog ein Taschentuch mit Häkelsaum hervor, um die immer ein wenig schnupfende, großflügelige Nase zu befreien. Dies war kein Schnauben oder Schneuzen, kein Posaunenstoß wie bei Engelmann, der kein Taschentuch normaler Dimension, sondern eine rotweiß gewürfelte Fahne verwendete, die seine Hosentasche zu Apfelgröße ausbeulte; es war ein sanfter Kehraus bei Hedwig Kolb, leise und trocken; auf das Taschentuch war eine blaue Giraffe gestickt, die um Verzeihung zu bitten schien. Christianregistrierte die verschiedenen Arten des Stillwerdens in der Klasse: bei Schnürchel schlagartig, eine Stille, die nach umgebrachtem Lärm entstand; bei Frank wurde es, wenn er den Raum betrat, zunächst noch lauter, weil er als Klassenlehrer sofort mit Fragen und Problemen bestürmt wurde; Uhl mähte die Gespräche mit einem gedonnerten »Ruhe!« nieder, und nur bei Hedwig Kolb war es eine Stille, die sich öffnete, als wären die Stimmen ein Gewirr von Waldpflanzen, die vor ihrem Schritt zurückwichen. Die Fee der Buchstaben hob ein Stück weiße Kreide und schrieb das Thema der Stunde an die Tafel. Die Klasse wartete; Hedwig Kolb drehte sich um und ließ ihren verhangenen Blick über die Schülerreihen tupfen, als müßte sie sich vergewissern, ob die Klasse noch die gleiche wie zur gestrigen Unterrichtsstunde sei oder ob nicht aus einigen Schülern plötzlich erwachsene Menschen geworden seien, die aufstehen und sich, anstatt über so zarte, behutsam zu behandelnde Dinge wie Gedichte zu sprechen, ernsthaften, der Volkswirtschaft geradlinigen Nutzen bringenden Tätigkeiten zuwenden würden – einen Nagel in ein Stück Dachpappe schlagen zum Beispiel –, sie ließ ihren Blick hier und dort hängen, er verweilte sinnend über dem Kopf eines Schülers, wie eine Blumenkanne über Blüten verweilt, während die sie haltende Hand zögert: Noch einen, noch zwei oder gar noch drei Tropfen? Bringen sie Schaden oder Nutzen? Dann strich der Blick weiter, und er verbarg seinen Zweifel in unterschiedloser, gleichwohl nicht gleichgültiger Freundlichkeit. Ohne daß Hedwig Kolb autoritär auftrat, besaß sie Autorität und wurde von den Schülern geachtet. Da erging es der ebenso sanften, vergeßlichen, nachsichtigen Englischlehrerin, Frau Kosinke, anders: Niemand nahm sie ernst, hinter ihrem Rücken ahmten die Schüler ihre Schrullen nach und lachten über sie. In den übrigen Fächern hatten sich schnell Hierarchien innerhalb der Klasse gebildet: Verena

Weitere Kostenlose Bücher