Der Turm
erschrocken, gewünscht.
»Eines Tages wirst du dich entscheiden müssen.« Ihre Stimme kippte. »Wenn du mich verläßt, tue ich mir was an.«
»Wirklich?« Das war der Zyniker, den jeder Chirurg in sich kannte, die skeptisch nüchterne Roheit, gegen die man nach einigen Jahren in diesem Beruf nicht mehr gefeit war. Er bereute es sofort. »Was ist mit Wernstein«, stieß er hervor, unfähig, in diesem Augenblick eine andere Entschuldigung zu finden.
»Er wird Probleme bekommen«, erwiderte Josta eisig, »vielleicht durch dich? Wie sagtest du? Berichte, Informationen –«
»Josta –« Er suchte ihre Hand, sie entzog sie ihm. »Ich hab’s nicht so gemeint. Bitte. Es tut mir leid.«
»Kohler und eure Klinikparteileitung haben eine Beschwerde eingereicht. Verunglimpfung sozialistischer Errungenschaften«, sagte Josta nach einer Weile.
Kohler. Müllers Günstling aus der Allgemeinen Abteilung. Sehreffizient, was das Klinikmanagement betraf, wie das neuerdings genannt wurde. Außer Müller und der Verwaltung schien ihn niemand zu mögen.
»Was ist das wieder für Unsinn!«
»Ich weiß nicht. Es liegt jedenfalls auf dem Tisch des Rektors.« »Was wird er unternehmen? Eine Sitzung einberufen, die Schiedskommission? Wernstein entlassen?«
»Ich wollte dich nur vorwarnen. Es könnte sein, daß er diesmal durchgreifen will, es waren in letzter Zeit viele von der Bezirksleitung da und sogar aus Berlin. Es gab unschöne Wortwechsel, und irgend so ein Typ, dem man seinen Stall auf zehn Meter anriecht, hat ihm offen gedroht. Daß er als Rektor vielleicht überfordert wäre.«
»Komm, gehen wir ein Stück. Ich möchte nicht, daß man uns hier zusammen sieht. Sie könnten denken, daß du Geheimnisse ausplauderst. Was will dieser Kohler eigentlich? Hast du seine Beschwerde gesehen?«
»Nur das ›Betreff‹ und dann noch ein paar Zeilen, die waren deutlich genug. – Hochkommen will er. Nächsten Monat wird er auf deine Station versetzt, und da stört Wernstein. Sie schlagen vor, ihn aus der Rotation herauszunehmen und zu versetzen.« »Sie wollen ihn aus der Klinik haben?«
»Müller hat schon mit dem Chef der Orthopädie in Friedrichstadt gesprochen.«
»Und davon weiß ich nichts. Verdammte Intriganten. – Wartest du draußen auf mich? Ich hol’ das Auto.«
Er parkte in einer Nebenstraße unweit ihrer Wohnung.
»Willst du nicht doch mit raufkommen? Wenigstens für ein paar Minuten?«
»Versteh doch.«
Sie schwieg und starrte auf die Straße. Mädchen hüpften Gummitwist, ein mit Fässern beladener Dreiradwagen schlingerte vorbei. »Liebst du deine Frau mehr als mich?«
»Laß doch.«
»Warum können wir nicht zusammensein … Immer dieses Versteckspiel, immer ›Versteh doch‹ und ›Laß das‹ und ›Auf Wiedersehen‹ … Lucie hat neulich im Kindergarten von dir erzählt, daß du abends immer weggehst, wenn du uns besuchst. ›Duhast ja ’n komischen Papa‹, haben die anderen Kinder zu ihr gesagt.«
»Ich hab’ dir doch gesagt, daß sie den Mund halten soll!«
»Ich kann’s ihr nicht verbieten, ich kann sie nicht immer kontrollieren.«
Nein, das konnte sie nicht. Es war doch natürlich für ein Kind, daß es von seinem Vater erzählte; was hätte er gesagt, wenn Josta ihm verraten hätte, daß Lucie gar nicht von ihm sprach. »Grüß sie von mir.«
Ohne ihn anzusehen, drückte sie seine Hand und stieg aus. Er kurbelte die Scheibe herunter. »Josta!«
Sie blieb stehen, drehte sich aber nicht um. »Entschuldige bitte.« Sie nickte. Die Mädchen spannten den Twistgummi höher. Ein Fenster öffnete sich über ihnen, ein Mann mit Hosenträgern über dem Unterhemd legte ein Kissen auf die Fensterbank und musterte die Mädchen.
»Ich wollte dir noch sagen –« Er fixierte das aufgeschwemmte, unrasierte Gesicht des Mannes über Josta; sie reagierte nicht. »Schönes Kleid hast du an.« Sie blieb noch eine Sekunde stehen, zog sich dann langsam den Mantel über, ging. Der Mann glotzte ihr nach. Als Richard nach Hause fuhr, stahl er für Anne einen Forsythienzweig aus einem Garten.
Am nächsten Tag war Chefvisite, ein weißbekittelter Troß walzte über die Nord-Stationen. Die Pflichtassistenten hielten Röntgenbilder vor Müllers und seiner Oberärzte Augen, die Stationsärzte murmelten Erklärungen, Schwestern nahmen mit sterilen Pinzetten die Verbände von den Wunden und reichten den untersuchenden Ärzten Handschuhe. Müller schaute immer wieder auf die Uhr, riß den Assistenten die
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