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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Fischer, könnte ich bitte einen Termin bei Professor Scheffler haben? Dringend.«
    »Worum geht es denn, Herr Dozent?« Jostas Stimme war kühl, sie klang unbeteiligt und geschäftsmäßig, das versetzte ihm einen Stich.
    »Um einen Kollegen hier aus der Klinik, Herrn Wernstein.«
    »Sind Sie auf Station? Ich rufe zurück.« Er hörte Augenblicke lang ihren Atem, bevor sie auflegte.
    Die Nachmittagsbesprechung bei Müller entfiel. Richard ging ins Rektorat, wo er für siebzehn Uhr einen Termin bekommen hatte. Er mußte warten und ging hinaus, weil er befürchtete, daß Josta ihn beobachten, seinen Blick suchen würde trotz der zweiten Sekretärin, die im Rektorat arbeitete. Aber noch mehr fürchtete er, daß sie seinen Blick nicht suchen würde. Er versuchte sich auf das bevorstehende Gespräch zu konzentrieren, sich auszumalen, in welche Richtung es etwa verlaufen würde. Er kannte Scheffler nicht besonders gut, das letzte Mal hatte er wegen der Weihnachtsvorlesung mit ihm gesprochen. Bei den regelmäßig im Rektorat oder im Verwaltungsrat stattfindenden Chefarztkonferenzen, denen der Rektor vorsaß, war Richard nur selten dabei, die Unfallchirurgie war zwar formal der Allgemeinen Chirurgie angegliedert, besaß aber fast den Status einer selbständigen Abteilung. »Fast«: Es war in der Schwebe, manchmal bekam Richard eine Einladung, an einer Konferenz teilzunehmen, manchmal nicht, und Richard befand sich, wenn er eine Einladung erhielt, Müller gegenüber im Zwiespalt: einerseits wollte er ihn nicht übergehen, andererseits kam er sich wie ein kleiner Junge vor, der für alles um Erlaubnis bitten muß. Außerdem störte es ihn, daß Müller sich bei der Lektüre dieser Einladungen von ihm abwandte und ihm widerwillige Antworten gab wie: Er wisse nicht, was es nutzen solle, wenn das Rektorat zwei Leitende Ärzte der Chirurgischen Klinik von ihrer Arbeit abhalte.
    Scheffler war Pathologe, und wie alle Pathologen, die Richard kannte, ein musischer Mensch. Er hatte ihn öfter mit seiner jungen und attraktiven Frau im Schauspielhaus gesehen, wo er sogenannten gesellschaftskritischen Stücken vorsichtigen Beifall spendete oder zu Arien aus Mozart-Opern die Augen schloß.Scheffler rauchte, ungewöhnlich für einen Arzt, erst recht für einen Pathologen, der die Raucherlungen sah; er rauchte kubanische Zigarren, die es trotz sozialistisch-brüderlicher Wirtschaftsbeziehungen in hiesigen Geschäften kaum zu kaufen gab. Rektor Scheffler verfügte also über Sonderkanäle, und er schien ein Genießer zu sein, ebenfalls wie viele Pathologen. Hautärzte, Psychiater, Internisten schätzten schöne Frauen, wußten gute von schlechten Weinen zu unterscheiden, lasen die neueste Belletristik, zitierten Goethe und Gottfried Benn und liebten klassische Musik, besonders Klavierspiel, das sie oft auch selbst beherrschten. Außerdem wurden sie alt. Die Chirurgen liebten schöne Frauen und schöne Autos und starben mit fünfundsechzig, wenn die Rente begann. Mit Scheffler, hoffte Richard, würde man reden können.
    »Magnifizenz, ich komme wegen eines Kollegen zu Ihnen.«
    »Ich weiß. Es geht um Herrn Wernstein, Frau Fischer hat mich vorbereitet. Ja. Setzen wir uns doch erst einmal.«
    Richard sah, daß das Breshnew-Porträt mit dem Trauerflor verschwunden und durch eines von Juri Andropow ersetzt worden war. Scheffler bemerkte seinen Blick. »Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Ein Mineralwasser?«
    »Vielen Dank, ich möchte Ihre Zeit nicht unnötig in Anspruch nehmen, Herr Professor. Herr Wernstein ist –«
    Scheffler wedelte müde mit der Hand, verlangte Kaffee und Mineralwasser über die Sprechanlage. Dann stand er auf und blieb mit auf dem Rücken zusammengelegten Händen vor den Fotos stehen. Das Telefon klingelte, aber er ignorierte es. Seine Schuhe waren aus feinem, durchbrochenem Leder gefertigt und stammten gewiß nicht aus einem volkseigenen Betrieb, sein Anzug war elegant geschnitten, Richard fragte sich, ob er beim Schneider Lukas am Lindwurmring arbeiten ließ; auch Scheffler wohnte in einer der Villen dort oben.
    »Sie interessieren sich für Politik?« fragte er unvermittelt und drehte sich halb zu Richard um. Erst jetzt fiel ihm auf, daß Scheffler im Knopfloch seines eleganten Anzugs das Parteiabzeichen trug. Warum auch nicht, dachte er, Ulrich ist auch in der Partei, und Scheffler, als Rektor, kann gar nicht anders. Trägt er das immer? Zu Weihnachten habe ich es gar nicht bemerkt.»Ich glaube, das sollte man tun,

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