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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Anästhesisten hatten sich auf nichts eingelassen und sich hinter die Unfallchirurgengestellt –, sondern seiner mangelnden Vorbildwirkung hinsichtlich der politischen Einstellung seiner Assistenten wegen. Wernstein mußte sich vor allen Kollegen und Stationsschwestern bei Kohler entschuldigen, wurde aber nicht in die Friedrichstädter Orthopädie versetzt.

    Plötzlich änderte sich der Ton von Jostas Briefen, Verzweiflung, Vorwürfe und Angst kamen zurück. Richard steckte in Arbeit, ein Ärztekongreß stand an, auf dem er ein Referat über Operationstechniken an der Hand halten sollte; Robert machte Schwierigkeiten in der Schule, er war jetzt in der neunten Klasse, mit deren Zeugnis man sich um einen der begehrten EOS-Plätze bewarb, und auch mit Christian schien etwas nicht zu stimmen, wie Anne sagte; doch wenn Richard ein Gespräch versuchte, wich Christian aus. Richard schob es der Pubertät zu, daß sein Sohn an manchen Wochenenden nicht nach Hause kam. Wenigstens seine Zensuren waren in Ordnung, Richard hatte mit dem Klassenlehrer telefoniert. Josta verlangte, daß er Anne verlassen solle, sie nannte ihn wieder »Graf Danilo«, was er nicht mochte, und zwar gerade deshalb, weil er wußte, daß dieser Spitzname etwas Wahres traf; er traute Josta nicht den psychologischen Scharfsinn und die Menschenkenntnis zu, ihn mit dem Namen dieses Operettenhelden zu titulieren; er glaubte, daß Josta ihm diesen Spitznamen nur wegen irgendeiner entfernten Ähnlichkeit zwischen einem Sänger der Staatsoperette Leuben und ihm gegeben hatte, daß der Treffer aus purem Zufall saß, und das gönnte er ihr nicht. Dieser Darsteller hätte genausogut einen Helden aus einer x-beliebigen anderen Operette spielen können, dann hätte Josta wahrscheinlich den Namen dieser Figur gewählt … Er glaubte, daß sie schlecht beobachtete, aber insgeheim wußte er, daß er sich irrte. Gegen Ende Mai kam ein Brief, in dem sie drohte, eines nicht mehr allzufernen Tages vor seiner Tür zu stehen und eine Entscheidung zu erzwingen, von seiner Feigheit war die Rede, von gemeinsamem Urlaub, von Lucie und Daniel, dann von Gas und Schlaftabletten. Richard nahm es nicht ernst, der Brief war zu sehr im Affekt geschrieben, wirkliche Selbstmörder drohten nicht, sondern handelten; er hatte in seinen Diensten zu viele dieser Fälle gesehen. Und sahsie noch – gerade jetzt im Mai schienen die Einsamkeit, die Verzweiflung, die Schmerzen für viele Menschen unerträglich zu werden. Josta bat um ein Treffen, er sagte zu, aber es kam etwas dazwischen, er verspätete sich, und als er zum verabredeten Ort kam, war sie schon gegangen. Sie hatte kein Telefon zu Hause; für solche Fälle hatten sie vereinbart, daß sie ihm ein Zeichen hinterließ, wohin sie gegangen war: ein scheinbar achtlos unter eine Parkbank gerolltes Papierkügelchen hieß: bin zu Hause; zwei gekreuzte Zweige: warte an der Trinitatiskirche auf dich; im Winter ordneten sie Schneebälle zu bestimmten Mustern. Diesmal fand er nichts. Er wartete, vielleicht war sie nur für einen Augenblick weggegangen. Sie kam nicht.
    »Oh, Herr Hoffmann, warten Sie auf jemanden?« Das war Heinsloe, der Verwaltungsdirektor.
    »Ich – N-nein. Nur ein bißchen frische Luft schöpfen.«
    »Das tun Sie recht, Herr Hoffmann. Komm lieber Mai und mache … Man wird doch gleich ein anderer Mensch.« Heinsloe rieb sich die Hände. »Ich habe vor einigen Tagen einen Brief von Herrn Arbogast bekommen. Sie kennen ihn? Er schrieb in diesem Sinne. Er möchte mit der Chirurgischen Klinik, genauer: mit Ihrer Abteilung, zusammenarbeiten. Er wird Ihnen sicher auch noch schreiben. – Was Ihren Mittelantrag betrifft, so ist leider noch nichts entschieden. Haben Sie einen Augenblick Zeit?« Heinsloe faßte Richard am Arm, zog ihn Richtung Medizinische Kliniken mit sich. Richard hatte jetzt überhaupt keinen Sinn für Gespräche über Budgets, neue Geräte oder Mittel für einen eigenen Hand-OP, die er schon vor langer Zeit beantragt hatte und um die es Heinsloe wohl ging. Der redete eifrig auf ihn ein.
    »Ich habe eigentlich keine Zeit, Herr Heinsloe, entschuldigen Sie –«
    »Sie müssen noch mal in die Klinik?« Die Frage kam so unvermittelt, daß Richard nichts Besseres einfiel, als zu nicken. »Das trifft sich doch gut, ich wollte sowieso vorbeikommen. Da mach’ ich das doch gleich. Gehen wir zusammen, da sparen Sie sich einen Termin bei mir.« Richard war überrumpelt und konnte wieder nur nicken. Auf dem Weg in die

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