Der Turm
Urlaub, merken Sie sich das. Sie haben den ersten Toilettendienst, Ansorge. Melden Sie sich nachher bei mir. Verstanden?«
Jens schwieg.
»Ob Sie kapiert haben, Sie Nullnummer!«
»Hm.«
»Hacken zusammen, Pfote zum Gruß ans Käppi und: Jawohl, Genosse Unteroffizier! – Das üben wir noch.«
Die Tage begannen mit einem durchdringenden Trillerpfeifenstoß, dem Unteroffizier Hantschs gebrülltes »Neunter Zug – aufstehen, fertig machen zum Frühsport!« folgte. Dann kamen ein, zwei zerstruwwelte, mißmutige Köpfe zum Vorschein, Gähnlaute, Seufzlaute, ungläubiges Grinsen, nicht zu Hause, im eigenen kuscheligen Bett erwacht und von einer liebevollen Mutter sowie dem Duft von Frühstück und Tee geweckt worden zu sein, sondern von ihm, dem Unteroffizier, der von einer Mot.-Schützen-Einheit nach Schirgiswalde kommandiert worden war und glaubte, dies sei die unmittelbare Verlängerung eines NVA-Kasernenhofs, auf dem man die verzärtelten und hochmütigen EOS-Laffen nach Herzenslust drillen konnte. Während des Morgensports, der aus Laufschritt, Häschen-Hüpf-Einlagen sowie Liegestütz und Kniebeugen auf dem Appellplatz bestand, beobachtete Christian Hantsch: Zum ersten Mal in seinem Leben lernte er einen Menschen kennen, dem es offensichtliches Vergnügen bereitete, andere zu kommandieren, ihnen seine Macht zu zeigen, indem er ihre Schwächen herauszufinden versuchte und, wenn er sie gefunden hatte (Hantsch schien dafür einen untrüglichen Instinkt zu besitzen), sie zu seiner Befriedigung und zur Qual des Opfers bloßstellte. Das war schamlos, und Christian verstörte es, daß Hantsch die Grenze nicht zu kennen schien (oder von ihr nichts wissen wollte), hinter der Demütigung begann. Natürlich entdeckte Hantsch, daß Christian nach dem Frühsport, wenn es mit nacktem Oberkörper im Laufschritt zum Waschraum ging, aus Scham über seine Akne das Handtuch wie eine Toga zu drapieren versuchte – was schon deshalb mißlang, weil das Handtuch viel zu kurz war –, daß er sich einen Platz ganz hinten in der Reihe suchte, damit die anderen seine Hautunreinheiten nicht sahen. Hantsch ließ den Zug halten, kam auf Christian zu, riß ihm das Handtuch von den Schultern, musterte Christian von oben bis unten mit dem Ausdruck der Überraschung und des Ekels und sagte: »Mensch, dich will doch nie eine vögeln. Alles kehrt!« Der gesamte Zug wandte sich um, Christian schloß die Augen, aber er spürte die Blicke der anderen auf seinem Körper brennen. »Na, jetzt ist er so rot,daß die Pickel fast verschwunden sind. Ist ja direkt eklig, Mann, wäschst du dich nicht richtig, und kann man da nichts gegen tun?« Hantsch machte ein bedenkliches Gesicht, ließ kehrtwenden und abrücken. Im Waschraum stellte er sich hinter Christian und beobachtete, wie er sich wusch. »Und dein Pimmel?«
»Abends, Genosse Unteroffizier«, preßte Christian, taumelig vor Wut, hervor.
»Du läßt dein Ding tagsüber stinken, du Sau?«
»Lassen Sie ihn doch in Ruhe«, murrte Falk. Hantsch wandte ihm langsam das Gesicht zu, es wurde still im Waschraum. Hantsch zuckte gleichmütig die Achseln. »Na, mir egal. Abiturienten!« Er blies verächtlich durch die Nase.
Die Hitze machte das Exerzieren, das stumpfsinnige Auf-der-Stelle-Treten auf Hochglanz polierter, nach zwei, drei Schwenks auf den trockenen Wegen staubbedeckter Stiefel, das »Links um!« – »Rechts um!« – »Rechts, links schwenkt – marrsch!«, die Geländeübungen, bei denen nur Stabenow seinen Zug im Schatten der Brombeeren und Waldränder rasten ließ, das Sturmbahnlaufen auf der »Werner-Seelenbinder-Kampfbahn« des Wehrlagers zur schweißtreibenden Plage. Nur Siegbert schien sich wohlzufühlen, jedenfalls hatte er für den Tagesablauf nur ein Achselzucken übrig. »Mensch, das ist doch gar nichts!« sagte er leicht verächtlich zu Falk, der beim Marschieren immer wieder aus dem Takt geriet und deshalb von Hantsch als »Bewegungsidiot« eingestuft wurde. Siegbert wurde ungeduldig. »Paß doch auf und reiß dich zusammen! Das bißchen Sturmbahn wirst du doch wohl packen! Ich will nicht, daß du uns die Punkte vermasselst, diese Affen von Kreuzschülern müssen aufs Maul kriegen!« Es gab eine Tafel an der Strecke zur Kantine, wo der tägliche Punktestand im Wettbewerb der verschiedenen Züge notiert war; Siegbert wollte unbedingt als erster abschließen.
»Wir sind nicht im Krieg – und du bist nicht Gilbert Wolzow«, versuchte Falk entgegenzuhalten.
»Ach was, Reina
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