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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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über der Schulter ein Paar schwarze Schnürstiefel: »Es sind ja nur zwei Wochen«, beruhigte er Anne. DieUniform stammte aus einem Depot, roch nach Mottenmittel; Robert, dem es nicht gefiel, daß sein Bruder über die Ferien wieder in der Karavelle wohnte, riß die Fenster sperrangelweit auf: »Das Zeug verpestet die ganze Bude! – Und hör mal, Alter, hier ruft dauernd so ’ne Trulla an, ist das die aus Waldbrunn? Reina Kossmann. Reina – klingt wie chemische Reinigung!«
    »Kümmer dich um deinen eigenen Kram«, sagte Christian. Bei Wiener ließ er sich die Haare kurz scheren: »Wennschon – dennschon«, ging in Uniform hin und Schnürstiefeln, das Käppi unter einer Schulterklappe; Wiener bediente schweigend im stumm gewordenen Salon, die Blicke wichen aus; erst als Oberst a. D. Hentter, der ehemalige Generalstäbler aus Rommels Afrikakorps, aufstand und Christian die Hand auf die Schulter legte, warteten Wiener und seine Gehilfen. »Wir dachten, wir haben bezahlt«, sagte Hentter, »solche wie dich hab’ ich vor El Alamein sterben sehen wie Fliegen. Und du kreuzt hier in diesen Lappen auf, mein Junge. Geh nach Hause und zieh das erst an, wenn’s nicht mehr anders geht.«
    Christian war enttäuscht, daß der Oberst ihn nicht verstand. Er trug diese Uniform nicht aus Stolz, sondern weil er sich bedauern lassen wollte, vielleicht auch aus Trotz, ein masochistisches »Seht her«-Gefühl, die Ausstellung von Leiden. Noch immer waren die Russen in Afghanistan. Noch immer herrschte Kriegsrecht in Polen. Er ertrug den Gedanken nicht, frei herumlaufen zu können, während die Uniform schon wie eine Mahnung im Zimmer lag. In dem Moment, in dem er die Montur erhalten hatte, war auf seine Freiheit ein Schatten gefallen, war die Frist bis zur Abreise vergiftet – und er hatte das Bedürfnis nach Würde: nach außen hin paßte er sich an, innerlich sagte er: Ich trage diese Kleidung, ich habe sogar kurze Haare, ich tue mehr, als verlangt ist, und ihr habt trotzdem keine Macht über mich. Den eigentlichen Grund überspielte er: Damit der Abschied erträglicher würde, zog er die Uniform schon vorher an.
    Richard sah Christian, als er vom Friseur wiederkam, dieser aufgeschossene Schlaks mit hochrotem, schuhbürstenkurz geschorenem Blondschädel sollte sein Junge sein? Anne, die im Garten gearbeitet hatte und eben eine Gießkanne neben den Rosenrabatten vor dem Tor abstellte, stieß einen Schrei aus, hobdie Hände, die Türen von Tietzes Shiguli schlugen, Richard sah, daß Niklas im weißen Kittel winkte, die Gießkanne stürzte um, das Wasser rann langsam, in großen blumigen Flecken, über die Gehwegplatten. Christian winkte zurück, blieb vor Anne stehen, sprach kopfschüttelnd auf sie ein, sie reagierte nicht, er nahm die Gießkanne und goß die Rosen, die in der Hitze wie Kreppapier raschelten.

    Die Waggons waren überfüllt, die Reichsbahn hatte nur einige Sonderabteile zur Verfügung gestellt, in denen dicht an dicht hellgrün uniformierte Schüler aus ganz Dresden und Umgebung unter Aufsicht ihrer Lehrer hockten. Das Umarmen, Tränenvergießen, Liebesbriefzustecken war vorbei, Türen knallten, ein Schaffner pfiff durchdringend und hob die Kelle zur Abfahrt, langsam, wie eine Walze, die zwischen den aschbraunen Bahnsteigen rollte, setzte sich der Zug in Bewegung und ließ die winkenden, mitlaufenden, Küsse werfenden und nach den rudernden Händen besonders zarter oder bemutterter Jungen greifenden Menschen zurück, die so deutlich in die Kategorien »Eltern« und »Freundin« gehörten, daß Christian ihnen die geballte Sentimentalität nicht verzieh und einen Apfel, den Falk ihm anbot, ergrimmt ablehnte; er mochte diese Abschiedsszenen nicht, sie machten es nicht leichter, das Unabänderliche wurde durch verheulte Gesichter nicht weniger unabänderlich. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er seiner Mutter etwas verboten: ihn zum Bahnhof zu fahren; er hatte es so brüsk getan, daß ihm jetzt das Gewissen schlug. Anne hatte ihm eine Ohrfeige gegeben, die erste seit vielen Jahren, er hatte das Entsetzen in ihrem Gesicht gelesen und war doch türenschlagend hinausgelaufen. Tauben flatterten auf, Christian drückte sich in seine Ecke und sah zum Glasbogen an der Stirnseite der bierbraunen Halle; von den Stahlträgern hingen Riffe aus Vogelunrat. Nachdem sich Jens und Siegbert genug über Christians Frisur ausgelassen hatten, luden sie ihn zu einem Skatspiel ein, sie spielten um Achtelpfennige, und er verlor einige

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