Der Turm
Groschen. Gegenüber saßen Kreuzschüler, tuschelten miteinander, sahen ihnen schläfrig zu. Die Kreuzschule genoß einen elitären Ruf in Dresden, der Chor der Kruzianer hatte unter dem Kantor MauersbergerWeltruhm ersungen, der humanistische Zug der Schule stellte überdurchschnittlich hohe Anforderungen; mittlerweile war die Schule als »rot« verschrien, und auch die sängerischen Leistungen sollten, wie gesagt wurde, gelitten haben. Dennoch: Ein Kruzianer zu sein war etwas Besonderes, damit galt man etwas in Dresden; die Damen in den Kaffeekränzchen hoben die Brauen, die Großmütter schlugen die Hände zusammen und riefen »Ach nein, ach nein« vor Glück, wenn ihr Enkel es in die berühmten Hallen geschafft hatte. Meno war Kreuzschüler gewesen, ebenso Christians Onkel Hans, und sowohl Muriel als auch Fabian sollten diese EOS besuchen. Die Kruzianer frequentierten das Café »Toscana« und stellten dort jenen für sie seit Generationen typischen, gelangweilt-blasierten »Was kost’ die Welt«-Ausdruck zur Schau, der sie im Bürgertum der Insel Dresden, wie Meno sagte, verläßlich und inzestuös »wie eine Eigenblutspende« verankerte. Christian beneidete sie um ihre Sicherheit. Siegbert achtete nicht auf die Jungs in den anderen Abteilen. Er hatte sich einen Stapel »Kompaß«-Abenteuerbücher mitgenommen und begann darin zu schmökern, als sie keine Lust mehr zum Skat hatten. Falk schälte seine Gitarre aus dem Futteral. Jetzt wurden die Kreuzschüler munter: »He, trifft sich gut, wollen wir nicht zusammen was spielen?« Ein braungebrannter Bursche mit schulterlangem Haar wies lässig auf ein Akkordeon in der Gepäckablage. »Und du kannst deine Trompete rausholen, Dicker!«
»Denkst du, ich bin schwul, oder was?!« Der als »Dicker« Angesprochene, ein vogeldünner Blondschopf, dem die Uniform um die Glieder schlotterte, drohte grinsend mit der Faust.
»Die mein’ ich doch nicht, du Brot!« Der Braungebrannte hob das Akkordeon herunter. »Kruzianer – viva la musica!« Er lüpfte eine Braue und wandte sich an Falk. »Kannst du spielen?«
»Kannst du Noten?«
»Kannst du Ironie?« antwortete der Braungebrannte Christian. Die Kruzianer wollten lateinische Vagantenlieder singen, mußten das aber allein tun, da nur sie diese Lieder kannten. Falk begleitete auf der Gitarre, der Blondschopf blies gefühlvoll die Trompete. Die einzigen Lieder, die alle konnten, waren »Bandiera rossa« und »Wann wir schreiten Seit an Seit«, und da das niemand singen wollte, begannen die Kruzianer wiedermehrstimmige Chöre, der Braungebrannte spielte Akkordeon und dirigierte mit Kopfnicken.
Der Zug schlängelte sich durch die Lausitz, Landschaft der Umgebindehäuser und des Gaumen-»r«, verschlafener Dörfer und sanftwelliger, bis zum Horizont reichender Felder; hier wurden die Kartoffeln »Apern« genannt, und viele Ortsnamen auf den Schildern waren in zwei Sprachen zu lesen, deutsch und sorbisch. Wenn der Zug langsam fuhr, hörte man die schlagenden Lerchen über dem Blaßgelb des Weizens; es roch nach Schweiß und Staub und gesüßtem Hagebuttentee. Aus dem vordersten Abteil drang das Knacken der Revolverlochzange des Schaffners, Christian beugte sich vor, Stabenows jungenhafte Stimme war zu hören, er hielt irgendeinen begeisterten Vortrag, bei ihm saßen Hagen Schlemmer und einige andere Physik-Enthusiasten, die immer noch bei Namen wie Niels Bohr und Kapitza leuchtende Augen bekamen. Auch Stabenow trug die Wehrlager-Uniform. Dr. Frank leitete den Zivilverteidigungs-Kurs der Mädchen an der EOS.
Das Wehrlager, ein hektargroßer Bezirk mit Baracken, Fahnenmasten, Kantine und Appellplatz, lag am Rand des Städtchens Schirgiswalde inmitten von grünen Hügeln, auf denen, hoch oben, Einfamilienhäuser mit heruntergelassenen Rolläden und vereinzelte Miniaturfichten standen; sie wirkten künstlich wie die Staffage einer Modelleisenbahn. Die Waldbrunner wurden von einem Unteroffizier empfangen, der ihnen ihre Baracke zuwies: zwei Gemeinschaftsräume für je zehn Schüler, Doppelstockbetten, Wecken sechs Uhr, Frühsport, Laufschritt mit freiem Oberkörper zum Waschen im zentralen Waschraum, Bettenbau und Revierreinigen, Frühstück sieben Uhr, dann Ausbildung.
»Gibt’s auch Freizeit?«
»Wie heißen Sie?« Der Unteroffizier baute sich vor Jens Ansorge auf, der kaugummikauend in der Tür stand. »Und Kaugummi raus, wenn ich mit Ihnen spreche.« – »Ansorge.« Der Unteroffizier notierte. »Sie sind hier nicht im
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