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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Filmvorführer verschwand mit mehreren Filmrollen auf den Schultern über eine Treppe in den Vorführraum; hinter einem schießschartengroßen Fensterchen stand ein fossiler »Ernemann«-Projektor, wie Meno von den Londoners wußte, die Barsano öfter zu einem seiner Filmabende lud. Der Kinosaal diente nicht nur Barsanos persönlicher Liebhaberei, hier wurden Filme vorab angesehen, hier wurde entschieden, ob ein Film der Bevölkerung gezeigt werden durfte oder nicht. Das Licht verlosch,als der Bezirkssekretär und die, die er neben sich in der ersten Reihe wissen wollte, auf ihre Stühle gefallen waren, die Maschine begann zu rattern, ein staubdurchwanderter Lichtschacht warf erste Bilder auf die geisterhaft emporgetauchte Leinwand; zunächst sah man eine weiße Tafel mit abgerundeten Ecken, durchhuscht von schwarzen Kratzern, in einem Fadenkreuz erschienen Ziffern, ein knistriger und zitternder Countdown, Barsano und Paul Schade rutschten erwartungsvoll auf ihren Sitzen hin und her.

33.
Wehrlager
    Gartengerüche, Duft der Rhododendren, Jasmin, der sich abends blaßgesichtig öffnete, weiße Münder der murmelnden Dämmerung, und blaue, ocker- und wasserfarbene Strömungen, die der Wind fächerte; die Geheimnisse des Grases, das Kuckucksstreifen trug und sich am Rand der Wiesen zu Violett vertiefte, plötzlich der Ruf eines Vogels aus einer Ahornkrone voll rieselndem Grün, Holunder, dessen Flüstern klang, als ob jemand Sand schüttete,
    ein Blatt, ein blinkendes Paddel, erfaßt von der Thermik, es wirbelte zurück und hielt auf dem Ast, von dem es gefallen war, inne, so daß man auf die Straße sah und sich vergewisserte, daß die Passanten nicht rückwärts liefen wie in Stummfilmen; jäh aufblitzende Fahrradspeichen, wenn am Wegrand ein Junge ein aufgebocktes Rad wendete; Dissonanz: eine Distel auf einer Streuobstwiese,
    schlummernde Katzen auf Bretterstapeln hinter Schuppen, erst zwei, dann drei, dann noch eine graue, eine braune regte sich auf braunem Holz, und dort: eine getigerte, Dutzende Katzen hockten in der Sonne, in respektvoll-eigensinnigem Abstand zueinander, keine Katze sah eine andere an, keine lag zu einer anderen parallel oder einer anderen im Rücken, in genau austariert scheinenden, noch so minimalen Winkeln sahen sie aneinander vorbei, reglos, und immer mehr erschienen, lautlos wie Umrisse auf einer sich entwickelnden Fotografie, manchemochten berührbar sein, manche nicht: als wäre diese Kolonie aus verschiedenen Junitagen zusammengesetzt, und durch eine Irritation im üblichen Ablauf der Zeit würden alle Katzen sichtbar, die in den vergangenen hundert Jahren an diesem Platz gesessen hatten,
    dann kam der Sommer.

    »Wir möchten dich bis auf weiteres nicht sehen«, hatte Josta nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus geschrieben, und es war dieses »wir« – das auch Daniel und Lucie umfaßte, die noch gar nicht verstand, was vorgefallen war –, das Richard in Unruhe versetzte und die Melancholie verstärkte, die ihn nach den friedlichen Einladungen des Frühlings, seinem verletzlich und unpathetisch wachsenden Grün, in den heißen Monaten oft befiel. Der Sommer forderte, trieb an, alles lief hochtourig, rangelte in schweißnasser Hektik, der Himmel schien sich wie ein Mühlstein zu drehen, Baumspitzen und Dächer zu bedrücken, den Fluß zu einer blinkenden Klinge zu schleifen; die Blüten beruhigten sich nicht mehr, sie hatten, so schien es, keine Zeit und platzten auf, pumpten aggressives Weiß in die Straßen, das gegen Mittag, unter kieselgrauer, wie alte Filme zerkratzter Sonne, zu Hitzeschlieren gequirlt wurde, dann verdorrte und, wenn die Blüten knisternd fielen, wie Gipsstaub auf den Wegen qualmte. Richard ging schwimmen an den Donnerstagen – trotz der Hitze zog er das Hallenbad den Freibädern vor –, kreiste Jostas Haus ein, fand den Laden, in dem Frau Schmücke Fische verkaufte: »Der Junge hat bald Ferien«, sagte sie auf seine vorsichtige Erkundigung hin, als das Geschäft leer war und die Schleien im Aquarium sich träge wieder sinken ließen, »es sieht so aus, als ob sie wegfahren wollen. Die Kleine lacht nicht mehr. Übrigens ist für die Kinder jemand gekommen, ich brauchte mich nicht darum zu kümmern. – Eine Frau«, setzte sie hinzu, »ich kenne sie nicht. Von der Familienfürsorgestelle beim Rat der Stadt, hat sie gesagt.«
    Die Jungen der 11. Klassen fuhren ins Wehrlager. Christian brachte eine hellgrüne Uniform und eine Gasmaske von der Einkleidung mit,

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