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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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hatte schon recht, du bist einfach nur zu schlapp!«
    »Siggi, du spinnst wohl!« Christian stellte sich vor Falk.
    Das Wehrlager kommandierte ein ehemaliger Major der NVA,ein untersetzter Mann mit faltigem Gesicht und sonnenverbrannter Haut, dessen dicker Bauch die Uniform über dem Koppel blähte. Abends schritt er jovial und stolzgeschwellt die asphaltierte Lagerstraße auf und ab, begutachtete die Einkäufe der Schüler in der lagereigenen Verkaufsstelle (Vanilleeis zu zwanzig Pfennigen, rosarotes Erdbeereis, das nach Wasser und Erdbeere schmeckte, die dem Erdbeergeschmack auf die Spur gekommen war), grüßte hackenzusammenschlagend »seine« (so sagte er) Zugführer zurück, und manchmal beobachtete ihn Christian, wie er mit auf den Rücken zusammengelegten Händen am Lagerzaun stand und zu den Häusern mit den herabgelassenen Rolläden hinüberblickte. »Seine« Zugführer, »sein Objekt« (das Wehrlager), »seine Soldaten«, wie Major a. D. Volick die Schüler beim Morgenappell und bei den Ansprachen in der Kantine titulierte; sein Lieblingswort war »pikobello«. Ein jovialer, aufgeräumter Mensch, der mit sich und der Welt im reinen zu sein schien – und der mit der gleichen Jovialität und Aufgeräumtheit auch ein entsprechendes Lager vor fünfzig Jahren geleitet hätte, so kam es Christian vor. Er sprach mit niemandem über seine Eindrücke, schrieb auch nicht. Siegbert beantwortete Verenas Briefe, die fast täglich kamen; Christian erkannte sie an ihrer charakteristischen stacheligen Schrift; er selbst bekam einen Brief von Meno, der ihm mitteilte, daß es wenig Mitteilenswertes gebe: Hitze in Dresden, in der Elbe seien die Grundsteine sichtbar, Fische trieben in den Nebenarmen; zwei Mädchen namens Verena Winkler und Reina Kossmann hätten ihm einen Dankesbrief »für Gastfreundschaft und das schöne Erlebnis bei Ihnen« geschrieben. Dann erwähnte er die Kaminski-Zwillinge, die sich immer ungenierter benähmen, dann, daß es ihm gelungen sei, ein genaues Adjektiv für den Farbton eines der Saturniiden im Treppenhaus der Karavelle zu finden. Typisch Meno, dachte Christian.

    Nun hatte es Richard gesagt; er wandte sich ab, vom Tisch, um den Barbara und Ulrich, Niklas und Gudrun, Iris und Hans Hoffmann saßen, drehte die Schulter zu Anne hin, die den Kopf gesenkt hielt, während das Ticken der Standuhr immer lauter ins Wohnzimmer der Karavelle griff, und Meno, der neben Reginesaß, empfand tiefe Scham, er wußte nicht, warum, und Mitleid für seinen Schwager, der ihm immer so stark und unkompliziert vorgekommen war; die üblichen Trübungen, die das Leben mit sich brachte, gewiß, aber im Grund ein sonniges Gemüt, ein praktischer, wenig mit Grübeleien belasteter Mensch, dessen Wesen zu sagen schien: Was wollt ihr denn? Man kann auch anders leben, heiterer, aufgeschlossener für die einfachen Dinge, die über euch Kopfzerbrecher sowieso schon staunen – was ihr aus ihnen macht, wie es euch gelingt, auch noch einen frischen Zug Waldluft mit Komplexen zu behängen.
    »Du mußt es deinen Kollegen sagen.« Barbara atmete aus.
    »Aber die Kinder«, Anne hob ihr verweintes Gesicht, »die Kinder … Was tun wir, wenn die ihre Drohung wahrmachen?«
    »Es wird alles nicht so heiß gegessen, wie’s gekocht wird«, hoffte Gudrun.
    »Meinst du!« Richard stand auf, wanderte hin und her. »Sind ja nicht deine Kinder! Würdest du’s drauf ankommen lassen?«
    »Meine Güte, dann studieren sie eben nicht … Hast du damit ein Problem? Ich liebe mein Kind, ganz gleich, ob es studiert oder nicht … Aber bei euch muß es ja unbedingt was Höheres sein! Ich fände es viel wichtiger, wenn sie ehrlich durchs Leben gehen könnten, wenn du reinen Tisch machst; dann hast du auch wieder ein ruhiges Gewissen!«
    »Was für Phrasen«, höhnte Richard auf Barbaras Einwurf. Ulrich wollte beschwichtigen, nahm Barbaras Hand, die aufgebracht emporgeflattert war. »Flöckchen, beruhige dich. Du magst ja recht haben. Aber ich kann Anne und Richard verstehen. Die Zukunft der Kinder steht auf dem Spiel, und wenn es auch für dich keinen Unterschied macht, ob Ina studiert oder nicht – für sie macht es einen Unterschied.«
    »Die Jungs wollen ja studieren«, pflichtete Meno bei, der sich bisher an der Diskussion nicht beteiligt hatte, »jedenfalls, soweit ich weiß. Anne und Richard möchten für sie das Beste, und das wäre, denke ich, wohl doch ein Studium –«
    »Um den Preis, daß Richard seine Kollegen aushorcht?« Hans Hoffmann

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