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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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subjektiven Standpunkt. Andere Ärzte sind anderer Meinung.«
    »Glaubst du.«
    »Nein, weiß ich. Mein Onkel ist auch Arzt, und der gehört nicht zu denen, die nur das Negative sehen oder nur Geld verdienen wollen.«
    »Was unterstellst du meinem Vater!« rief Christian aufgebracht. Er wedelte mit der Hand durch die Luft, als wollte er ganze Schwaden Gras abmähen. »Aber lassen wir das! – Findest du es gut, daß die Jungs drei Jahre zur Armee müssen?«
    »Sie müssen ja nicht. Anderthalb Jahre sind Pflicht. Alles, was darübergeht, ist freiwillig.«
    Christian ließ die Arme fallen. Er konnte nicht glauben, daß Reina tatsächlich so naiv war. »Fahner hat uns den dreijährigen Ehrendienst ›nahegelegt‹; der Hefter mit unseren Beurteilungen und Studienwünschen lag gut sichtbar daneben! Schöne Freiwilligkeit!«
    »Die amerikanischen Soldaten müssen nach Vietnam. Sie müssen töten für die Interessen der herrschenden Kreise, des Kapitals. Oder glaubst du etwa, die sind für humanitäre Zwecke dort? Und was ist mit dem Falklandkrieg?«
    »Die Russen müssen nach Afghanistan. Das ist genauso ein Überfall. Und dort müssen sie auch töten. Und kannst du mir erklären, was die mächtige Sowjetunion eigentlich im armen Afghanistan zu suchen hat?«
    »Das ist West-Propaganda. Ich glaube nicht, daß das stimmt. Das hast du aus dem RIAS, das sind Hetzer.«
    »Was tun also dann die Russen in Afghanistan, deiner Meinung nach?«
    »Sie sind von der Regierung um Hilfe gebeten worden, gegen die Konterrevolution.«
    »Selbstverständlich. Wie Achtundsechzig in der ČSSR. Die haben die Russen auch zu Hilfe gerufen. Komisch nur, daß die Bevölkerung nicht dieser Meinung war.«
    »Das ist wieder West-Propaganda. Die Leute haben den sowjetischen Soldaten zugejubelt, das hat man doch im Fernsehen gesehen. Christian, du solltest dir echt überlegen, was du sagst.« Das klang nicht drohend, nur verwundert, trotzdem war er sofort ernüchtert. Aber ihn reizte das Thema, er konnte es nicht so schnell lassen, auch eine Ader zum Rechthaben pochte, er bog ab: »Du hast mir gesagt, daß dein Bruder homosexuell ist. Hat er keine Schwierigkeiten?«
    »Mein Vater hat ihn rausgeworfen. Und für Mutter gibt’s ihn nicht mehr. Sie sagt, sie hat nie einen Sohn geboren. – Sonst: Nicht, daß ich wüßte.«
    »Es gab mal einen Paragraphen, nach dem hätte dein Bruder ins Gefängnis müssen. Nur wegen seiner Veranlagung. Er kann nichts dafür.«
    »Bei den Amis gibt’s Rassendiskriminierung. Im übrigen wurde dieser Paragraph abgeschafft. – Mein Bruder geht auch drei Jahre zur Armee.«
    »Aus Überzeugung?« zweifelte Christian.
    »Was willst du damit andeuten?«
    Widerwillig mußte er lachen. »Nichts Anzügliches.«
    »Ich würde auf dich warten«, sagte Reina.
    Turgenjew-Herzklopfen nun doch; er wußte, daß er rot wurde und hielt sich in der Dämmerung des Weges; Reinas Achselhöhlen, Reinas Leib, von dem das Laken gerutscht war, wie einfach wäre es jetzt, sie zu berühren, die Lippen ihres schiefen, sommersprossenumstreuten Munds zu suchen, das übliche Zeug zu stammeln, wehrte er sich: seine Akne, über deren eiterbekappte Buckel ihre Finger tasten, für eine Sekunde zögern, sagen würden: Pickelvergiftung; widerliches Suppenhuhngefühl, ich will mir doch keine Pickelvergiftung holen, dann würde sie aus Takt etwas Besänftigendes murmeln und doch sich insgeheim ekeln:eben doch abschmierendes Flugzeug das Ganze; wie würde es sein, mit Reina zu schlafen, er sehnte sich, fürchtete sich.
    »Würdest du zu einer Überzeugung stehen, ganz gleich, was passiert?«
    »Ich würde es versuchen«, antwortete Reina nach einiger Zeit, ohne ihn anzusehen, der Abstand zwischen ihnen war größer als ihr ausgestreckter Arm; seine Hand hätte helfen müssen.
    »Auch wenn du erpreßt oder gefoltert werden würdest?«
    »Wenn ich jetzt ja sage, denkst du, ich gebe an oder überschätze einfach, was ich aushalten kann. Wer kann das schon wissen. – Müssen wir darüber reden?« Reina war genervt, er hörte es, und trotzdem reizte er weiter, nun gerade, es bereitete ihm ein gewisses Vergnügen. »Und wenn sie nicht dich foltern würden, sondern jemanden, den du liebst?«
    Reina holte tief Luft: »Wer sollte dich foltern wollen.«

    »Hüte dich vor Reina«, sagte Verena eines Abends, »ich glaube, sie ist eine von denen. Sei vorsichtig bei dem, was du sagst.«

    Eine Magnetnadel pendelte über den Kompaß, flatternde, unentschlossene

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