Der Turm
Schwimmbewegungen; Verena schien unerreichbar, sie hielt nun offen Händchen mit Siegbert, und Christian konnte das Musikinstrumentenbraun ihres Haars so lange ansehen, bis ihm Schweißsträhnen und auf den Schultern der dunklen Nikkis, die sie trug, gepuderte Schuppen auffielen; er konnte ihren Blick ertragen, ohne sofort etwas zur laufenden Diskussion beitragen zu müssen, ohne mit einer fahrigen Geste: Faustkrampfen, Kopfkratzen, die Nacktheit dieses Blicktauschs zu verhüllen, alles entschieden wegzuschieben. Plötzlich war die Magnetnadel stehengeblieben.
Hüte dich vor Reina.
Aber er mußte nun sein, wo sie war; er konnte es nicht ertragen, wenn sie bergab das Gleichgewicht verlor und Falk oder Siegbert ihre haltsuchende Hand griffen; er glotzte, wenn sie rasteten, den Flaum ihres Nackens an, die verletzbaren, zu hellen Wirbeln gebogenen Haare, von denen ein gefährlicher Sog ausging: manchmal hatte er schon den Finger ausgestreckt,weil eine Mücke dort saß oder eine Vergewisserung notwendig war, auch glaubte er, daß die Narbe weh tun müsse und daß der Schmerz aufhöre, wenn er ihn berührte. Rechtzeitig genug fiel ihm ein, daß Falk auf seine Bewegung achtgab und es nur noch Sekunden dauern konnte, bis das Gespräch erstorben und Reina versteinert sein würde; abends wünschte er, sie läge noch immer auf der Matratze neben ihm, und er könnte bestimmen, wo sie der Schauer des ersten Kusses treffen sollte – aber sie hatte sich einen anderen Platz gesucht, weit weg von ihm. Rücken, Anlauf der Schulter, die Stelle der Haarwirbel (zu erwartbar, sagte er sich, vielleicht würde sie es später vergessen, wenn er sie danach fragte: Wo war mein erster Kuß, erinnerst du dich? oder ein anderer hatte sie bereits dort geküßt, sofort bildete er sich ein, daß es so sein mußte, wahrscheinlich auf die Narbe, so ging es in Piratenfilmen – er wußte ja nicht einmal, ob er für Reina der erste Freund sein würde: unwahrscheinlich, sicherlich hatte es Liebeleien in früheren Schuljahren gegeben; ob sie nicht überhaupt einen Freund hatte; er nahm sich vor, ihn zu verprügeln, den Mistkäfer); vielleicht doch die Narbe, oder besser einen Punkt auf der Linie, die das Bettlaken gezeichnet hatte und wo der Rücken ins Becken überging; ihr Ohrläppchen (rechts oder links? sie waren beide gut durchblutet), ihren Bauchnabel (bei dieser Vorstellung schrie er leise auf vor Freude: ihr Bauch würde kurz vor dem Kuß wie elektrisiert zurückweichen, wie wenn man ein Eisstück daraufwarf, würde langsam, wie beim Ausatmen, wieder hochkommen, genau in diese steigende Bewegung würde er seine Lippen halten, so daß ihr Nabel seine Lippen berühren würde, nicht umgekehrt), ihren Ellbogen (ungewöhnlich, aber trocken, so küßten, dachte er, Modelleisenbahner), ihre Nasenspitze (aber sie war schließlich keine Katze), ihren großen Zeh (der linke war schöner; ein tapferer, wahrscheinlich nach Sauerkraut schmeckender Kuß), besser noch der Ring-Zeh, der zweite von außen (da küßte nie jemand, aber würde sie sich das merken? vielleicht war das zu gesucht, zu kompliziert?), ihre Brüste (natürlich, na klar, logisch; er malte sich auf fiebrigen Spaziergängen die Farbe ihrer Brustwarzen aus, ob sie rosig waren oder blaßbraun wie Milchkaffee, ob er zart hineinbeißen könnte ohne ihr Schmerz zuzufügen, ob sie auf seine Zunge,seine Lippen, womöglich sein Nasenloch reagieren würden – dies, wenn er besonders gierig schnüffelte), oder die Kniekehle? Nein.
Er würde ihre Achselhöhle küssen. Natürlich gab es noch ihren Mund, aber der kam nicht in Frage für den ersten Kuß, den würde er später besuchen. Der erste Kuß, beschloß er, sollte ihrer Achselhöhle gehören, der rasierten, schwitzenden, brötchenweißen, taubenbäuchigen Bucht unter ihrem linken Arm.
Kurt hatte kein Telefon, Einladungen erhielt er schriftlich, auch Lene hatte keins; Christian ging in den Ort, um Barbara anzurufen. Er wollte Anne nicht beunruhigen, und was Richard gesagt hätte, konnte er sich denken. Als er die Nummer wählte, sah er den baufälligen Balkon am Italienischen Haus vor sich, das Treppenfenster mit den Nachtviolen, die Meno und er im Winter, am Geburtstagsabend, bewundert hatten. Es war Freitag, Ina würde aus sein: Es hätte ihn sehr gestört, wenn sie ihm geantwortet hätte; Barbara kam freitags oft eher nach Hause; sie würde wahrscheinlich in der Küche stehen und kochen. Sie meldete sich. Er erzählte ihr von Reina.
»Und
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