Der Turm
oberste sowjetische Offizier näherte sich den beiden Polizisten, wies auf die Schüsseln, den Essenkübel, den Tee.
»Was für ein Quark«, der Kellner griff sich an den Kopf.
»Wir müssen Sie bitten, uns zu folgen!« Der erste Polizist stellte sich vor Meno und Anne, der zweite faßte den lachenden Kellner am Arm. Drüben schrien und winkten Regine und Hans. Als ein Pfiff ertönte, rannten sie los, stolpernd und gehetzt mitden dreizehn Gepäckstücken, Hans blieb noch einmal stehen, hob Philipp auf die Schultern, der, soweit Meno erkennen konnte, vergnügt mit den Ärmchen dirigierte.
»Wir werden untersuchen, was Sie in der Nähe der sowjetischen Streitkräfte wirklich vorhatten! Vorwärts!« befahl der erste Polizist.
43.
Hochzeit
Hoffmanns Barometer wies auf »veränderlich«. Die ersten drei Tage des Mai waren kalt. Es hagelte und schneite, dann kam die Sonne, noch blaß und schlaftrunken; plötzlich, wie nach abruptem Entschluß, kletterte sie voller Energie aus dem Bett. Am 4. begannen die Bienen zu schwärmen. In den Gärten am Elbhang brandete der Löwenzahn. Wild- und Süßkirsche blühten, am 13. trug Meno Pflaumen- und Birnbäume in Libussas Frühjahrskalender ein, zwei Tage später die Cellini-Äpfel. Wenn Meno von Langes Wintergarten in Richtung Pillnitz blickte, sah er den Blütenschnee wie Daunen aus tausenden zerschlitzten Kissen auf den noch winterdunklen Bäumen liegen.
An einem Sonntag Mitte Mai stand eine Hochzeitsgesellschaft vor der Kirche Pfarrer Magenstocks und wartete auf das Brautpaar. Barbara jammerte, nach einem Blick auf die Uhr, einem zu Ehrwürden Magenstocks abwiegelndem Arm und einem zum Himmel, daß es wie verhext sei: Wo blieben die beiden? und gerade jetzt fielen die ersten Tropfen dick und schneckenweich auf die Ulmenleite.
»Macht doch nichts«, Niklas öffnete mit demonstrativer Lässigkeit den Tietzeschen Familienschirm über Gudrun und Reglinde; er selbst schützte die graumelierte Grandseigneursfrisur, die noch nach dem Wienerschen Birkenhaarwasser duftete (Meno mußte an einen russischen Feldweg mit jubilierenden Lerchen und obligatem Pferdegespann denken), unter dem Vordach, aus dem hin und wieder ein Klecks fiel. Ehrwürden Magenstock war stolz auf die Vogelnester und vielen Spinnennetze. Gottes ist, was kreucht und fleucht, hatte er vor Barbara beharrt, dieärgerlich erwiderte, der Herr solle sich lieber an die Schneider und ihre mühseligen Hochzeitsvorbereitungen halten, und ob es ihm gleichgültig sei, daß das Zeug an den Schuhsohlen hängenbleibe und damit in der Kirche. Ehrwürden hatte sich leicht verneigt. Pfarrer Magenstock, wußte Meno, hatte besondere Auffassungen von Seelsorge und darüber, was es bedeutete, Hirte in schwieriger Zeit zu sein. Das Schiff der Christenheit steuerte auf gefährliche Untiefen zu, und manchmal, wenn sich Pfarrer Magenstock zu nächtlicher Stunde an das Bildnis von Bruder Luther wandte – flammenstreiterischen Antlitzes, Hammer der Wegpflöcke, Löwe der Schrift und Morgenstern der Zwiste –, um ratsuchend vom Geist seiner Kraft zu trinken, hörte er nichts als das vertraute Klappern der undichten Fensterläden und die Atemzüge seiner sieben Lieben.
Ulrich riß das Handgelenk mit der Uhr vor die Augen, breitete die Arme, daß Josta und ihr Mann zurückprallten (ein Studienkollege Wernsteins, wie Richard erfahren hatte, der im Seitenschiff der Kirche einen unwahrscheinlich mild und verklärt aufblickenden Heiligen anstarrte), Ulrich rieb sich das Kinn, das wie alle Männerkinne dieser Hochzeitsgesellschaft (auch Roberts und Ezzos, Ulrich hatte darauf bestanden, der Fotos wegen) von Lajos Wiener persönlich rasiert worden war mit schwerer, auf Juchtenleder abgezogener, blaugepließteter Solinger Klinge. Alles, was Ulrich hören ließ, war ein durch zusammengebissene Zähne gesiebtes »Herrgottnochmal!« (das Parteiabzeichen trug er nicht, stellte Meno fest), worauf Barbaras Lehrer, der schlohhaarige Kürschnermeister Noack aus Leipzig vom Brühl, mit Barbaras Bruder Helmut Hoppe, Konditor und Pâtissier im VEB »Elbflorenz«, besorgtes Einverständnis tauschte und zum Himmel wies, an dem es zu grollen begann.
»Ist doch wahr«, Ulrich blickte achselzuckend nach oben, »verträgst wohl keine Kritik, was?«
»Aber Herr Kannegießer müßte es doch schaffen?« Annes Frage sank in die dezente Unergründlichkeit von Ehrwürden Magenstocks Gesicht. Wer wußte schon, ob der F 9 des Kantors die Steigung vom Mordgrund, am
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