Der Turm
geworfen werde, so daß sich allerlei Gattung fing; die guten wurden in ein Gefäß gelesen, die faulen aber weggeworfen. Richard gab das zu denken: Hieß es nicht: Wie du bist, so darfst du kommen und wirst gnädig aufgenommen? Das Himmelreich hatte es also nötig, sich seine eigenen Bewohner zusammenzufischen … Verspürten die Fischlein also gar keine Lust, ins Himmelreich zu schwimmen, und mußten mit Gewalt aus ihrer Dummheit ins Paradies gerissen werden? Wenn es aber so prachtvoll war da oben, warum kamen dann die Fische nicht von selbst? All das kam ihm bekannt vor. Er beobachtete Magenstock, der freudig erregt auf der Kanzel stand und der Gemeinde predigte. Auch mußte er an die Szene im Wald denken, als Wernstein, Dreyssiger und er versucht hatten, einen Weihnachtsbaum zu stehlen. Ein Lied erklang, er sang nicht mit; zu stolz zu heucheln. Er beherrschte keines dieser Lieder, und Ina, dachte er gereizt, hatte es versäumt, für Ignoranten wie ihn die Texte abzuziehen. Natürlich gab es nicht einmal genug Gesangbücher. Ulrich schien ganz gut mithalten zu können … Interessant. Die Stenzel-Schwestern brauchten kein Gesangbuch. Aufrecht standen sie in ihrer Reihe und maßen ihre Nachbarn, Ärzte aus der Akademie, die mit ihren Nasen an den Zeilen eines gemeinsamen Gesangbuchs entlangrutschten, mit steifer Befremdung. Als Ina Wernstein den Ring auf den Finger steckte (schmunzelnd, wie Richard selbst von schräg hinten erkennen konnte: Wernsteins Fingernägel hatten Motorenöl-Trauerränder behalten), schrie Barbara um Hilfe, fuhr sich wild auf dem Dekolleté herum: Ein Skorpion sei auf sie gefallen! und rannte hinaus, Ulrich hinterher. »Ein Ohrenkneifer«, raunte er, als sie zurückkamen.
»Vater unser, der du bist im Himmel.«
Richard nahm sich vor, nach Wernsteins Angehörigen zu fragen; die Hochzeitsgesellschaft schien nur aus dem Rohde-Flügel und einigen Kollegen Wernsteins aus Akademie und Studium zu bestehen.
»Bitte kuk-kähn auf die kleine Stie-klitz, bitte vorstellen, daßVögelchen flieg, und lachen.« Vor der Kirchentür, im feuchten Licht einer zaghaft zurückgekehrten Sonne, korrigierte Malivor Marroquin die Positionen für das Standfoto. Kurt Rohde küßte Ina auf beide Wangen, musterte Wernstein, indem er sein Gesicht nach links und rechts drehte, klopfte ihm knapp, doch burschikos auf die Schulter; Meno dachte: Er hat ihn gern, der Rest ist Verlegenheit. Typisch Türmer. Sie haben sie, die großen Gefühle, aber sie spielen sie herunter und machen sie eher lächerlich, als sie einzugestehen; sie allzu offen zu zeigen, käme ihnen wie ein Affront vor, eine Indiskretion, eine Verletzung des unüberschreitbaren inneren Kreises. Wer die Geheimnisse benennt, verliert sie, wer mit den großen Gefühlen verschwenderisch umgeht, hat keinen Respekt davor; sie meiden Kitsch und drehen gern das Pathos leiser; sie fürchten die Ausverkaufspreise auf den Dingen, die ihnen wichtig sind. Marroquin hielt einen Belichtungsmesser hoch, stellte das Stativ an den drei Flügelschrauben nach, die auf den Holzstützen wie Propeller steckten, die es mit vereinten Kräften schaffen würden, den zerschrammten, klobigen Kamera-Kasten mit messinggefaßter Linse und Schwarztuch in die Lüfte zu heben und den verdutzten Fotografen mit dem abgerissenen Fernauslöser in der Hand alleinzulassen. Marroquin hatte die Straße mit zwei Warndreiecken (»Achtung, Fotografie!«) abgesperrt. Er ließ sich nicht davon beirren, daß Autos zu hupen begannen, warf, indem er mit dem Zeigefinger drohte, herausfordernd den fahnenroten Schal über die Kutte, aus deren von Schneider Lukas nach Marroquins Wünschen aufgebrachten Taschen Fotografenutensilien lugten, dazu allerlei Accessoires, die sich bei einem Termin der üblichen Art (»Wie soll’s denn sein, was haben Sie für Vorstellungen? – Keine Ahnung, Sie sind doch der Fachmann«) als nützlich erweisen konnten: Pappnasen, Papier-Chrysanthemen, für Kinder eine Makarov-Zündblättchenpistole. Marroquin trug ein Barett mit einem Anstecker über dem Kranz langen weißen, unruhig mit den Bezauberungen der Mailuft philosophierenden Haars; auf dem Anstecker standen die Worte No pasaran in entgegengesetzten Ausrufezeichen, die auf Meno wie zwei streitende Fausthiebe und eigentümlich ironisch wirkten (wozu zwei Ausrufezeichen, genügte eines nicht?); jedenfalls mußte erlächeln, wenn er sich Parteiparolen zwischen den antagonistischen Boxelementen vorstellte.
»Wollen Sie, daß man
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