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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Lazarett vorbei bis zur Turmstraße, noch bewältigte.
    »Ich setz’ mich gleich noch mal ins Auto und fahr’ ihnenentgegen.« Ulrich schob wütend den Unterkiefer vor, quetschte das Schlüsselbund in der Faust. »Irgendwo müssen sie doch stecken. Und auf die Idee, hier anzurufen, wenn sie eine Telefonzelle sehen, kommt wohl weder deine Tochter noch unser Schwiegersohn?« »Du rufst ja auch nie an, wenn du dich verspätest. – Vielleicht sind sie heimlich auf und davon!« Sie habe, entsetzte sich Barbara, schon manches erlebt in ihrem Dresdner weiten Wanderleben. »Nu klar«, Helmut Hoppe griff in die Innentasche seines Jacketts und zog einen Flachmann heraus. »Schwester, nimm erst mal ’n Schluck Eierlikör. Haben wir selber gemacht, schmeckt besser wie von drüben. Die Eier direkt vom Bauern direkt in unsere Rationalisierungsabteilung. Die rationalisieren dann dieses Stöffchen, meine Gutste, wenn der Tag lang ist, und in der Rationalisierungsabteilung ist der Tag immer lang.«
    »Da kommen sie ja«, sagte Christian. Daß er hier sein konnte, verdankte er einem Versprechen, das er nach einem Briefwechsel mit Meno dem über die Urlaubsanträge gebietenden Spieß seiner neuen Einheit hatte geben können. »Uffz. Hoffmann«, hatte Stabsoberfähnrich Emmerich, genannt Schlückchen, gesagt, »du bist ein Ohrli im zweiten Diensthalbjahr, und Ohrlis fahren eigentlich nicht auf Urlaub. Aber wenn du tatsächlich einen Auspuffkrümmer Polski Fiat zu bieten hast …« Meno hatte ihn schon bereitgelegt.
    Ina stieg lachend aus dem Auto. Wernstein und Dreyssiger, sein Trauzeuge, sahen wie Färber aus; beide im Unterhemd und trotz der Wärme schlotternd; die Arme waren bis zu den Ellbogen schwarzverschmiert. Ina trug ihnen die weißen Hemden und die Frackoberteile hinterher.
    »Um Gottes willen, Kind, was ist denn passiert!«
    »Motorschaden, Schwiegermutter.«
    »So was Blödes! Hättet ihr die Karre doch stehengelassen und ein Taxi genommen!«
    »Wollten wir ja. Keins frei! Und per Anhalter ging auch nicht, war nichts zum Anhalten da.«
    »Wie ihr ausseht! Himmel! Herr Magenstock, können sich die beiden bei Ihnen waschen?«
    »In der Kirche habe ich nur kaltes Wasser. Wir gehen rasch in meine Wohnung.«
    Christian beobachtete Ina, als die drei, gefolgt von Magenstock, aus dem Pfarrhaus wiederkamen; sie hatte sich noch immer nicht beruhigt und mußte sich am Zaun festhalten, um dem erschöpften Körper für Augenblicke ein Kräftesammeln zu gönnen, wie es zwischen Wehen oder nach dem lindernden Erbrechen bei Magen-Darm-Grippe seine zerzausten Wellenkreise breitet, dann blickte sie auf und sah Barbara ins Gesicht, das in Momenten großer Aufregung dem einer entsetzten Elster glich. Ina hob schlaff und aufstöhnend die rechte Hand, legte sie auf die Stirn, dann wurde sie wieder von konvulsivischem Lachen geschüttelt. Wernstein und Dreyssiger henkelten sie unter, Pfarrer Magenstock versuchte einen Schirm über die Braut zu halten. Frau Kantor Kannegießer hatte angerufen, während sie oben gewesen waren, ihr Mann sei erkrankt, Doktor Fernau stehe neben ihr und habe strenge Bettruhe verordnet; sie habe mit Herrn Trüpel gesprochen, er sei bereits mit einer Plattenauswahl unterwegs zur Kirche.
    »Und da isser schon; ein Mann im Sonnenschein«, Ulrich grinste.
    »Bloß gut, daß wir so schöne Schirme haben. Mensch, sind wir schadenfroh. Herrlich«, Helmut Hoppe leckte einen Tropfen Eierlikör vom Rand des Flachmanns und betrachtete mit Interesse den im nun rauschenden Regen wie eine Ralle heranflatternden, vom Gewicht des Phonokoffers gebeugten Rudolf Trüpel.
    Schon viele Male, wenn Kantor Kannegießer erkrankt war, hatte der Inhaber des Schallplattenladens »Philharmonia« bei der feierlichen Umrahmung von Hochzeiten, Taufen und Begräbnissen ausgeholfen. Meno erinnerte sich an Weihnachtsgottesdienste mit Jubilaten und Toccaten, gegriffen von einem auf keinen Gemeindechor Rücksicht nehmenden Musik-Erlösungssucher an einer Silbermann- oder Arp-Schnitger-Orgel, deren orkanische Orchester den Sündern brausend ins Gewissen fuhren, sobald sie Rudolf Trüpel, mit stiller Befriedigung und pädagogischer Angriffslust, aus der japanischen Hi-Fi-Anlage erschauern ließ, die qualitätsbewußte Mitglieder einer hamburgischen Partnergemeinde gespendet hatten. Meno erinnerte sich, daß sein Vater ihm als Kind von der Wohnung der Ruhe erzählt hatte, als wäre die Ruhe eine Mieterin mit Mietvertrag undHausordnungskalender, und wenn er

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