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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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sich an die farbigen Kuppeln der Basiliuskathedrale auf dem Roten Platz erinnerte, dachte er, daß sie in Moskau dort wohnte, nicht im Arbat und nicht im Büro des Direktors der Lubjanka, wo ein Telefon gellend schwieg. In Schandau hatte ihm der Haubenturm von St. Johannis diesen Eindruck vermittelt; nun aber, in der Ulmenleite, riß die Kette der Assoziationen. Die Hochzeitsgesellschaft vor der Kirche wurde allmählich ungeduldig (Barbara mit mißmutig gerunzelter Stirn), denn es dröhnte mit der Kraft eines Alphorns, geblasen neben dem Ohr eines schlafenden Säuglings, ein Bachscher Begräbnis-Trost-Choral nach dem anderen heraus.
    »Feiner Chor«, sagte Niklas, »könnten die Thomaner sein. Das Orchester ist das Gewandhaus, die Geigen reden Sächsisch, aber nicht Residenz.«
    Ein weiterer Versuch brachte Schwermut, Aufbegehr, und Gott mit offenen Armen.
    »Manche Ehen sind so«, stellte Helmut Hoppe fest. »Ein Schelm, wer dabei an Eierlikör denkt.«
    »Du und deine Anzüglichkeiten«, seufzte Helmut Hoppes Frau Traudel, »kannst du sie dir nicht wenigstens auf der Hochzeit deiner Nichte sparen.«
    »Nee. Wär’ schön, wenn die Hochzeit mal weitergeht. Man wird nicht trockener. — Nuguckemada. Da breitet einer ziemlich verlassen die Arme. Kenn ich aus’m Betrieb. Da heißt’s dann: improvisieren.«
    In der Kirche wartete die Gemeinde. Herr Trüpel beriet sich mit Pfarrer Magenstock. Was Meno verstand, war, daß Trüpels Sohn die Inhalte der Phonokoffer (Taufe, Trauung und Beerdigung) vertauscht haben mußte. Magenstock nickte, besann sich, rückte die Brille zurecht. Reglinde schüttelte kategorisch den Kopf. Sie hatte die Kirchenmusikschule zwar abgeschlossen, aber keine Stelle als Kantorin angetreten. Sie arbeitete jetzt im Zoo als Hilfstierpflegerin. Robert hatte eine Idee, und als die Hochzeitsgesellschaft nach Braut und Bräutigam und Pfarrer Magenstock die Kirche betrat, improvisierte ein Chor, gestaffelt zum Kanon, den Mendelssohnschen Hochzeitsmarsch von der Empore: Trüpel dirigierte, Niklas’ Baß imitierte die Orgel, Gudrun die Oberstimmen, dazwischen ließen Ezzo und Christian zart gedudelte Arabeskenwachsen, während zwei von Inas Kommilitoninnen und Robert die Melodie intonierten. Pfarrer Magenstock begrüßte Brautpaar, Familie und Freunde. »Wir beginnen diesen Gottesdienst im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«
    »Amen.«
    »Laßt uns beten mit Worten des sechsunddreißigsten Psalms: Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen …«
    »Also is’ unter Wasser nischt mehr los, da darfste lügen wie gedruckt«, flüsterte Helmut Hoppe Barbara zu, die vor Meno saß. »Ich glaub’ auch nicht dran, aber enöff! In der Kirche lästern bringt Unglück!«
    »… in deinem Lichte sehen wir das Licht. Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist. Wie es war im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit.«
    »Amen.«
    Pfarrer Magenstock gab dem Chor ein Zeichen. Eine feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen: dirigierte Trüpel mit ergriffenem Elan. Die Stimmen Kürschnermeister Noacks und der Stenzel-Schwestern hoben sich dünn und zittrig in die Höhe. Richard hielt den Blick zu Boden gesenkt. Meno wußte, daß er nur Anne und heute seiner Nichte zuliebe in die Gottesdienste ging. Kurt Rohde würde später kommen und draußen vor der Kirche Malivor Marroquin erwarten, der die Hochzeitsfotos aufnehmen sollte. Der Gesang flaute ab, zerflatterte schamvoll; Trüpel ließ den Chor noch einmal aufleben, um das schaukelnde Ersterben unten in den Bankreihen aufzufangen und mit einem bündigen Ende zu versehen. Magenstock bestieg die Kanzel und begann über den ausgewählten Trauspruch zu predigen. Wer aber die Wahrheit thut, der kommt an das Licht, daß seine Werke offenbar werden; denn sie sind in Gott gethan.
    Richard beobachtete Lucie. Sie hatte mit anderen Kindern die Blumen gestreut. Jetzt saß sie zwischen Josta und dem fremden Mann und ließ verstohlen die Beine baumeln. Daniel lümmelte mit verschränkten Armen neben Josta, blies Kaugummiblasen, drehte hin und wieder den Kopf.
    »Was für ein ungezogener Junge«, flüsterte Anne, »Wieso grinst er dich dauernd an? Kennst du ihn?«
    »Nein. Vielleicht der Sohn eines Patienten.«
    Richard hörte der Predigt eine Weile zu, schaltete auf Durchgang, als Magenstock zum dritten Mal zu einem biblischen Gleichnis griff: Das Himmelreich sei ein Netz, das ins Meer

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