Der Turm
Moment«, er fischte eine Visitenkarte aus dem Lederhandtäschchen und drückte sie Richard in die verdutzt geöffnete Rechte. »Der ›Freischütz‹ ist ja nicht ganz mein Fall, viel Romantik und Schützenfestgetue. Ein schöner Traum, zu dem wir uns hier versammeln, und jeder wird ihn anders verstehen. Aber die Musik ist bewundernswert, und für unseren Herrn und Meister«, Sperber nickte vorsichtig in die Staatsloge hinüber, »dürfte es genau das Richtige sein. Erst vorigen Samstag hat er einen Zwölfender geschossen. Entschuldigen Sie mich für ein paar Minuten.«
Sperber verschwand, tauchte nach einigen Augenblicken drüben in der Staatsloge auf, wo langwieriges Händeschütteln begann.
Der Zug hatte Verspätung, nun standen sie, nachdem sie gerannt waren, auf dem Bahnsteig und warteten. Das wäre jetzt die Zeit für den Abschied gewesen, aber die Bahnhofsansage hatte von einer Stunde gesprochen. In der Mitropa bleiches, schleimiges Licht; Kakerlaken huschten über die Tische wie ertappt. Es gab im Tagesangebot messinggrüne Brühe, Leipziger Allerlei,Schnaps und Bier. Hans ekelte sich, wollte wieder hinaus. Meno kaufte eine Packung »Marie«-Kekse. »Liest du gern?« fragte er Hans draußen.
»Kommt drauf an, was. Am liebsten Karl May.«
»Hier. Vielleicht hast du auf der Reise Langeweile.« Er steckte dem Jungen einen Band Poe zu, Erzählungen, illustriert von Maler Vogelstrom.
»Bestimmt nicht. Danke.« Hans nahm das Buch, schob es in die Innentasche seiner Kutte.
»Ist das kalt«, klagte Regine, als sie zurückkamen. »Hoffentlich geht nichts mehr schief –«
»Wißt ihr, warum es Verspätung gibt?« fragte Meno. Regine, wieder in Tränen, wandte sich ab.
»Zugefrorene Weichen. Der Zug kommt aus Rostock«, antwortete Anne. Sie hatten für Philipp auf den Koffern eine Art Bett gebaut, ihn mit Kleidungsstücken zugedeckt, aber er schlief nicht, blickte zum Deckengewölbe des Bahnhofs, von dem verkrustete Asche in Zapfen herabhing, Darmzotten eines Gulliver im Lande Liliput; hunderte Tauben hockten auf den Querstreben und hatten die Köpfe in die Flügel gesteckt, eng aneinandergedrängt, so daß keine der anderen gefährlich werden konnte in der Nacht, dachte Meno, wahrscheinlich wärmten sie einander auch. Die Lautsprecher über dem Bahnsteig knackten, eine Frauenstimme dehnte in breitem Sächsisch die Verspätung des Zuges ins Unbestimmte. Regine bedeckte den Mund mit der Hand und beugte sich nach vorn, es sah aus, als ob sie ein Gähnen unterdrücken wollte, aber sie schrie gegen ihre Hand. Hans zog Regine beiseite, sie gingen auf und ab. Auf dem Bahnsteig wartete niemand außer ihnen. Transportpolizei kontrollierte einige Betrunkene auf entfernteren Gleisen.
»Schrei, wenn du willst«, sagte Anne, »mich stört es nicht, und man soll es ruhig hören.«
»Damit sie uns zu guter Letzt noch verhaften?«
»Hans«, bat Regine leise.
»War nicht so gemeint.« Von Annes Mund stieg Rauch, Meno beobachtete seine Schwester aufmerksam. Vielleicht aus Scham zog sie ihren orangefarbenen Schal bis unter die Augen, sie trug eine Schapka, die Barbara genäht hatte, knüpfte dieOhrenklappen zu. Meno stopfte sich eine Pfeife. Jetzt nahm Anne Regine unterm Arm, sie gingen im Kreis, besprachen Einzelheiten der Wohnungsauflösung. Die vietnamesischen Teekisten konnten an Jürgens Adresse in München geschickt werden; das Geld dafür solle Anne aus dem Verkauf der Möbel nehmen, die Regine hatte zurücklassen müssen.
»Was hattest du dir denn überlegt?«
Regine drehte sich zu Meno um, der dem starken Vanillegeruch des Tabaks nachschnupperte, Mißtrauen veränderte Hans’ Gesicht, dabei hatte Meno nur aus Neugier gefragt und um die Zeit zu vertreiben. »Ist ohne Bedeutung.«
»Richard meint, ihr müßt drüben sofort gegen die Beschlagnahme eurer Bilder Klage einreichen, auch wenn es natürlich keinen Erfolg hat.«
»Die Bilder sind weg, Anne, und Jürgens Skulpturen auch, das ist der Preis.«
»Ebenholz.« Rechtsanwalt Sperber musterte die Standuhr neben der Schleiflacktür mit den beiden zierlichen Sesseln, in denen Arbogast und Rechtsanwalt Joffe plauderten. »Was sagen Sie als Fachmann?« wandte er sich an Richard, der neben ihm stand und unbehaglich immer wieder auf die Tür mit dem leuchtenden »Loge« darüber blickte. »Ich war schon öfters bei Ihrem Vater in Glashütte. Er besitzt eine ausgezeichnete Sammlung und war so freundlich, mich beim Ankauf diverser Stücke zu beraten. Einige davon
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