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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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müssen über den Ausschluß einiger Kollegen aus dem Verband. Sie alle wissen, daß viele von Ihnen vor dieser Versammlung zusammengerufen und unter Disziplin genommen wurden. Wir alle wissen, was für den einzelnen von seinem Votum abhängt: Westreisen und Stipendien, Auflagen und Aufführungen, Verfilmungen und Preise. Ich werde es keinem übelnehmen, wenn er oder sie in Erwägung solcher Vorteile für meinen und der anderen Kollegen Ausschluß stimmt.«
    »Das ist ja unglaublich! Was reden Sie da! Aufhören!«
    »Ich tue Ihnen und mir sogleich diesen Gefallen. Möge Ihnen die Scham und das schlechte Gewissen, wenn Sie nach Hausegehen, nicht zuviel Bedrückung bereiten. Bedenken Sie, wenn Sie abstimmen, daß es die Zeit gibt, und daß Dinge, die starr und unveränderlich scheinen, sich zu ändern vermögen; manchmal schneller, als man es für möglich gehalten hätte. Es könnte sein, daß Sie eines Tages Ihren Kindern werden Antwort stehen müssen; oder Menschen, in deren Namen mancher Kollege hier zu sprechen vorgibt. Dann könnte es sein, daß sie fragen werden: Wie habt ihr euch damals verhalten, Meister des Worts, als es darauf ankam, sich zählen zu lassen?«
    »Es spricht Karlfriede Sinner-Priest.«
    »Danke Kollege Bojahr. David Groth: Ich erinnere mich an einen Mann, der durch die Tore Buchenwalds kam, in amerikanischer Uniform, und der in die Gesichter zweier Kollegen sah, Paul Schades und meins, in mein häßliches Gesicht, ich hatte keine Haare mehr und vom Skorbut und von den Schlägen kaum noch Zähne. In die Gesichter der Häftlinge sah er, setzte sich hin und nahm den Helm ab. David Groth: Ich erinnere mich an einen Autor, der bewegende, lebenspralle Bücher über den schwierigen und von manchen Widersprüchen gekennzeichneten Beginn der neuen Zeit schrieb. Die Zeit, die ein kleines Kind war und immer noch nicht recht erwachsen geworden ist, denn gesellschaftliche Prozesse rechnen nicht in Menschenzeit. Verzeiht, wenn ich hier eine emotional-private Komponente in die Diskussion trage, aber ich frage mich, was Zeit und vielleicht auch Ruhm aus dem David Groth gemacht haben, den ich einst als glühenden Verfechter unserer Sache, als Kämpfer für eine bessere und gerechtere Welt, gegen Faschismus und Imperialismus, gekannt habe. Gestern saß ich und blätterte Briefe durch, die er an mich schrieb, las Dokumente in alten Zeitungen, las in seinen früheren Büchern. Den Autor der ›Soldaten‹ und der ›Morgenröte‹ werde ich nicht vergessen, den Verfechter des Bitterfelder Wegs und der harten, aber angebrachten Worte gegen Kräfte, die ich nicht nenne, da sie das Protokoll nicht beschmutzen sollen. Der Autor des ›Trotzki‹ ist ein, der Begriff fiel bereits, Kolportageschriftsteller, dem keine Verleumdung, kein billiger Trick zu schlecht sind, wenn sie seinen Zwecken zu dienen versprechen; Zwecke, die ich nicht kenne und bei der Lektüre gescheut habe, denn ich wagte nicht zuglauben, was ich las, und sah mehrfach auf dem Titelblatt nach, ob sich da jemand einen üblen Scherz erlaubt und ein Schundmanuskript unter dem Namen David Groths abgeliefert habe. Gewisse stilistische Eitelkeiten und Schiefheiten, schon immer vorhanden, früher aber von der Substanz seiner Bücher mitgetragen, belehrten mich leider eines Besseren. Nicht jeder, der in die große Moraltrompete pustet, ist ein guter Schriftsteller; nicht jeder, der im Westen den ehrbaren Dissidenten spielt, ist, ohne Rabatt betrachtet, ein Dichter, der den Namen verdient. Ich habe die Zeit nach dem Krieg mit einem Kind verglichen. Die meisten von uns dürften Kinder haben. Sagen Sie dauernd Ihrem Kind, daß es häßlich ist? Sehen Sie nur das Häßliche an Ihrem Kind? Oder sind Sie nicht einfach stolz und glücklich über dies große Geschenk? Unser Kind Sozialismus aber bekommt von Nörglern und Miesepetern immer wieder unter die Nase gerieben, wie fehlerhaft und häßlich es doch sei; da seien seine Beinchen zu krumm, dort seine Arme zu kurz, sein Leib zu mager, die Stimme brüchig, seine Lippen verkniffen und dünn, seine geistigen Fähigkeiten schwach … Das ist die Brille, die an allem nur das Schlechte und Häßliche sehen läßt, das Gute als belanglos oder unwichtig abtut. Es ist nun einmal so: Wir haben ein Statut, eine innere Verfassung, wenn man so will, und daran hat man sich zu halten, will man Mitglied unseres Verbandes sein. David Groth, du und eine Reihe anderer Autoren, von denen mich vor allem Fräulein Schevola

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