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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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glauben, ihre eigene Geltung würde steigen, wenn andere nichts mehr gelten. Judith Schevola muß man nicht mögen, aber sie ist eins der bedeutendsten Talente des Ostens, neben einem, der als Abräumer in einer Ausflugsgaststätte tätig ist. Haben wir so viele Talente, daß wir es uns leisten können, sie zu vertreiben? Ist Diffamierung, Intoleranz, Beschränktheit die angemessene Weise, mit Talenten umzugehen? Muß unsere Gesellschaft, will sie für die Menschen attraktiv bleiben, nicht lernen, ihre Kritiker zu ertragen?
    Kollegen! Ich fordere euch auf, ich bitte euch inständig, einem Ausschluß nicht zuzustimmen! Es wäre eine Katastrophe mit unabsehbaren Wirkungen, sollten unsere Kollegen ausgeschlossen werden. Sie alle wissen, daß ihre Existenzen dadurch zerstört werden würden, daß es für sie nahezu unmöglich wäre, hier weiter ihrem Beruf nachzugehen. Ein Ausschluß wäre nicht das Ende unserer Sorgen, sondern der Beginn der nächsten Schraubendrehung.«
    »Es spricht Eduard Eschschloraque.«
    »Schwer ist’s die Wahrheit sagen, wenn / die Lüge hoch im Ansehn steht. / Wer schätzt die Sonne, die verbrennt? / Die Wüste ohne Schatten und Oase, / die reine, echolose Schiefertafel, / den Spiegel, der zurückschenkt nur das Nichts? / Ein Ding allein ist sinnlos nur und traurig, / erst zwei zusammen tauschen ihre Stimmen / und stützen gegenseitig ihre Schwäche. / Nun will ich böse sein und gute Fragen stellen: / Was Freiheit sei, wenn alle Schranken fallen, / denn Goethe sagt es vom Gesetz: / Nur dieses kann uns Freiheit geben. / Was die Verfassung sei, die als ein Eisenring / sich um die Zungen schnürt und Menschenfleisch, / das alt wird und vergeht. / Was uferloses Meer dem Schiff, / gesteuert nach der Hand / der Galionsfigur am Bug?«
    »Mensch, auswendig.«
    »Schlechte Leute sind’s – und gute Musikanten, / sagt Brentano, Ponce de Leon. / Und traten wir nicht an, einander uns zu lieben / jedoch: ›Was halten Sie von ihm … so unter uns? / Ist eine Kröte voll Juwelen, die verwest. / Da kommt er, Achtung. – Mein lieber Eschschloraque / schon lang verlangte mich zu sagen / wie tief ich Ihre Sch…tücke schätze /, wie sehr auch Ihren Mut, den Zeitgeist / als Wasserspiegel eines Klos zu sehen, / und was drin schwimmt, ist wert, daß man’s hinunterspült.‹ / – Die Heuchelei zum Beispiel. / In meinen Händen seht ihr einen Katalog / voll Klassenfeinde stecken, hübsch gedruckt / von einem garstigen Verlag im Westen. Mittendrin / steckt unser lieber Günter Mellis; und andres / Staatsgefieder sah ich auch. Bestrafung: ja. Doch / fordre ich sie ebenso für Mellis und Genossen / denn Schweine sind’s, die andre Schweine nennen / und selber aus den Schweinetrögen fressen.«
    »Unverschämtheit! Raus, raus!«
    »Verwirrt sind Tag und Zeit, / doch ich bin treu den Vatersitten / halt die Gesetze eng, das macht die Träume weit / und Menschenwesen unzerstritten. / Süßer Honig oft aus bittren Waben! / Den Widersinn durchbrechen! – Indem wir uns Verfassung gaben: / Die Küche lebe – Tod den Küchenschaben! / Ordnung muß selbst Ordnung haben / Der Streit wird nie vom Streit begraben. – Übrigens, Herr Schade, sollten Sie Ihr Deutsch prüfen.›Waffe, von der Bleistiftspäne hobeln‹ – die Sprache ist ein Affe, um den Flöhe knobeln.«
    »Herr Rohde, Herr Groth, als Diskussionsleiter ist es meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß das Mitstenographieren von unseren Protokollführern besorgt wird! Nach Herrn Eschschloraques Beitrag, der hilf- und geistreich war wie immer, spricht als letztes vor der Pause Judith Schevola. Danach ist am hinteren Ausgang das Büfett eröffnet.«

46.
Hispano-Suiza
    Bildhauer Dietzsch kickte gegen das Schloß, eins der waffenbraunen, käferförmigen »aus der guten alten Zeit«-Stücke, wie es sie bei Eisen-Feustel in der Nähe der Rothenburger Straße für besondere Kunden hin und wieder gab; ein Schloß mit fingerdickem Bügel, der erst beim vierten oder fünften Schlag von unten mit dem Pinnhammer aufschnappte »wie die Kinnlade eines Krokodils, das den Widerstand eines Kaugummis überwunden hat«: sagte Dietzsch; Richard fand den Vergleich kindlich und hatte Vergnügen daran; der Maler ließ das Schloß noch mehrmals auf- und zuklacken, es mußte ein gutes Gefühl sein, Sicherheit, Gediegenheit, Teile, die glatt verklinkt ineinanderpaßten; manche Menschen wurden Gefängniswärter für dieses Gefühl. Ingenieur Stahl war ein Stück

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