Der Turm
enttäuscht, denn von ihr hätte ich mehr erwartet: Ihr haltet euch nicht daran. Beklagt euch, daß man nicht reden könne – schaltet aber die Westmedien ein, bevor ihr mit uns Kontakt sucht. Wir haben euch das nachgesehen und unsererseits erfüllt, was in den Statuten steht, Absatz III.7: daß der Vorstand Gespräche führen soll, ob die Voraussetzungen zur Mitgliedschaft weiterhin gegeben sind. Ihr sagt, eure Sorge um die sozialistische Kulturpolitik sei so schwer, daß ihr die Westmedien nicht mehr als Instrument des Klassengegners, sondern als Hilfe bei der Veränderung dieser angeblich so schreckensvollen Verhältnisse anseht. Ihr sagt, daß ihr euch kritisch äußern wollt, aber zu Verbandsversammlungen, wo ihr das frei tun könnt, kommt ihr nicht. David Groth: Die Entscheidung fällt mir nicht leicht. Ich habe schlaflose Nächte hinter mir. Und doch ist allesbereits entschieden. Durch dich, durch jene anderen Autoren, die uns verunglimpfen. Nicht wir entfernen uns von euch – ihr entfernt euch von uns. Du und deine Kollegen: Ihr habt euch selbst ausgeschlossen.«
»Danke, Karlfriede Sinner-Priest. Es spricht Kollege Altberg.« »Meine Damen und Herren, ich habe kein vorbereitetes Redemanuskript, denn das Thema unserer Jahresvollversammlung ist mir erst hier bekanntgeworden, und wie mir könnte es den meisten von Ihnen gegangen sein. Freilich hat die ungewöhnliche Bestimmtheit des Einladungsschreibens mich in ahnungsvolle Aufregung versetzt. Ich sehe unter Ihnen viele Gesichter, die ich in unserem Verband noch nie gesehen habe, frage mich, ob sie zu Autoren gehören – und was diese Autoren, wenn es welche sind, veröffentlicht haben mögen. Der Verdacht beschleicht mich, daß es um Abstimmungsmehrheiten geht. Geht es auch um Literatur? Literatur ist nicht die Magd der Politik, die Illustratorin des gerade aktuellen Zeitgeists. Nur Dummköpfe oder böswillige Untersteller glauben, Figurenmeinung sei Autorenmeinung – nun, es gibt Figuren im Leben, die ich nicht mag, für die ich aber dennoch Interesse aufbringen muß, wenn ich das Leben nicht nur in seinen mir genehmen Aspekten darstellen will. Nur Einfaltspinsel glauben, Judith Schevolas graues Haar oder die Anzahl der Haare auf Georg Altbergs Nasennebenwarze sage auch nur das geringste über ihre Bücher aus. Nicht, nicht? Literatur heißt Lyrik, Essay, Roman, Drama; es heißt nicht: Interview. Es gibt Kollegen, deren Interviewtätigkeit ihre literarische Produktion um vieles übertrifft, und oft nicht nur an Umfang. Sie wissen über alles und jedes Bescheid, äußern sich mit der unbefangensten Miene zu Raumflug und Abrüstung, Frauenfragen und Kulturpolitik; aber ihre Romane und Gedichte sind dünne Produkte, arm an Leben, arm an Welt. Wir, deren Aufgabe die Sprache und das Wort ist, sollten nicht mitfahren im bunten Karussell der Meinungen. Das ist der Platz der Schauspieler, der Politiker und Sportler. Ich möchte nicht mißverstanden werden. Es ist ja eine hierzulande beliebte Übung, die Arbeiter des Worts, des Geists als publicitysüchtige Hampelmänner abzukanzeln, wenn sie gewisse Probleme ansprechen, die nach Meinung gewisser Funktionäre untermTeppich bleiben müßten. Das ist Denunziation. Denunziation ist es meiner Meinung aber auch, lieber David, Herrn Mellis mit der Formulierung, Moment, ich habe mir das notiert, ›Wer in der falschen Uniform, unter falschem Abzeichen in ein falsches Lager geriet‹ zu antworten. ›Ich brauche mich meiner Vergangenheit nicht zu schämen‹, sagtest du. Ich sage: Ich schon. Und ich glaube, Günter Mellis tut es auch. Beide haben wir für die Irrtümer und Verblendungen unserer Jugend schwer bezahlen müssen, und der Alptraum der Vergangenheit ist für mich eine nächtlich wiederkehrende Heimsuchung. Jeder muß für sich mit dem fertigwerden, was er getan oder nicht getan hat, jeder hat seine Gespenster im Schrank – und jeder sollte sich hüten, dem anderen als Besserwisser oder gar als Richter gegenüberzutreten. Wir werden alle gerichtet – anderswo.
Toleranz: Das Wort, das heute, glaube ich, noch ungesagt geblieben ist. Es gibt das Gesetz, und es gibt die Menschen, doch das Gesetz ist für die Menschen gemacht, nicht die Menschen für das Gesetz. Ich weiß, daß meine Worte bei manchen hier im Saal auf taube Ohren stoßen, das sind jene, die Verluste für unumgänglich halten, die sie manchmal – einige dieser Menschen, ich hoffe, es sind nicht allzu viele – womöglich sogar erhoffen, weil sie
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