Der Turm
dem die Dresdner im Wintermatsch Zweihundertmeter-Schlangen bildeten; mit Ulrich in die Franckeschen Stiftungen nach Halle, eine medizinische Präparatesammlung anzusehen. Im Verkehrsmuseum kannte Richard jeden Winkel. Manchmal ging er mit Vater hin, das Verkehrsmuseum gehörte zu den wenigen gemeinsamen Interessen. Kurt sagte: »Guck malda, Richard.« Richard sagte: »Guck mal dort, Kurt.« Beide sagten: »Guck doch mal, Meno.« Richard sprach über Zündkerzen, etwas, das Dauer habe trotz hoher Belastung, soweit bei irdischen Dingen von Dauer die Rede sein könne. Keine Fehlzündung bis ans Lebensende, jedenfalls im Westen. Vor dem Benz erzählte er von der ersten Langstreckenfahrt mit einem Automobil, ironischerweise sei der erste Autofahrer überhaupt eine Autofahrerin gewesen: Bertha Benz, die Frau des Konstrukteurs, besteigt in der Hühnerfrühe eines Augusttags 1888 mit ihren beiden Söhnen, nicht ohne ihrem Mann einen Zettel zu schreiben, daß man ihn nicht zu verlassen gedenke, den knatternden, einer Kutsche ohne Pferde ähnelnden Wagen und macht sich von Mannheim nach Pforzheim auf den Weg, die Mutter zu besuchen. Schwarzwaldhügelan müssen Bertha und der fünfzehnjährige Eugen absteigen, der dreizehnjährige Richard lenkt. Hügelab geht’s mit rauchenden Bremsen; die ledernen Bremsbeläge verschleißen derart, daß Bertha sie unterwegs von Schuhflickern ersetzen lassen muß. Mit einer Hutnadel wird eine verstopfte Benzinleitung gereinigt, mit einem Strumpfband ein Zünddraht nach einem Kurzschluß isoliert. Benzin kauft man in der Apotheke. Überall stehen und gaffen die Leute, in einem Gasthaus wollen sich zwei Bauern einen Faustkampf liefern, weil sie sich nicht einigen können, ob der Wagen durch ein Uhrwerk – wo aber ist der Aufziehschlüssel, er muß riesig sein – oder durch übernatürliche Kräfte angetrieben wird. Man erreicht Pforzheim vor Einbruch der Dunkelheit. Danach beginnt der Siegeszug des Automobils. Wir besuchten das Verkehrsmuseum, sahen Flugzeuge, Schiffe, Eisenbahnen, die Phalanx der Oldtimer im Lichthof; Richard ging umher, immer mehr Kinder und Erwachsene blieben stehen bei seinen Ausführungen – ich hatte den Eindruck, daß er absichtlich laut sprach, um mit seinen Kenntnissen zu prahlen, jedenfalls schien er nichts dagegen zu haben, wenn Fremde zuhörten. Nach wenigen Minuten begleitete ihn ein Troß lern- und anekdotenbegieriger Besucher; Museumswächter, solange sie in Sichtweite zu ihren Ausstellungsstücken bleiben konnten, eingeschlossen –
Nach dem Kauf des Wagens fuhr Richard so oft er konnte nach Lohmen. Stahl hatte mehr Zeit; er arbeitete in einer Abteilungfür Rationalisierung und Neuererwesen, und was er zum Rationalisieren oder Erneuern vorschlug, kam bei der Betriebsleitung meist nicht durch. An den dienstfreien Wochentagen fuhr Richard abends, an den Wochenenden bei Sonnenaufgang. Das Geld für Daniel hinterlegte er bei Nina Schmücke.
47.
. . . zähl die heitern Stunden nur
Deshalb dürfen Sie niemals abseits von Ihrer Gruppe, Bedienung oder Besatzung stehen. Nur im Kreise der Genossen können Sie sich als sozialistische Soldatenpersönlichkeit entwickeln und bewähren
vom sinn des soldatseins
Er mußte immer wieder an den Frosch denken, dem Siegbert im Wehrlager die Beine abgeschnitten hatte. Verzweifelt im Dunkeln seiner Sprachlosigkeit kämpfendes Tier, die langsamen, wie gleichgültigen Abwehrbewegungen – ging ihn das etwas an, konnte man nicht sagen: Es ist doch nur ein Frosch! Und wer weiß schon, ob er tatsächlich Schmerzen spürt? Christian hörte die Stimmen im Block, das rohe Gelächter, wenn sie wieder jemanden jagten. Burre war nicht sprachlos. Burre schrieb Gedichte. Sentimentale, schwache Gedichte, aber er äußerte sich. Der wäre eigentlich etwas gewesen zum Befreundetsein, dachte Christian. Wäre. Denn er wollte nicht mit Burre befreundet sein. Burre war schwach, und er dachte darüber nach, warum er Burre dafür geringschätzte. Und er, was war er selbst? Konnten sie mit ihm nicht machen, was sie wollten? Aber Burre war ergeben. Oder es schien so. Sie quälten ihn, weil einer zum Quälen da sein mußte. Sie mußten ihre eigenen Qualen abquälen. Aber bei ihm, Christian, war es nicht nötig, und das wußten sie. War Burre zu quälen nötig.
Sie fuhren ins Feldlager und kehrten zurück, sie hatten sich zehn Tage nicht gewaschen, und zum Zähneputzen gab es Kieferntau, oder Wassertropfen, mit Diesel vermischt, aus dem Tank des
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