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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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dich bei vollem Namen, denn du verstehst mich. Wir benutzen alle diese Dinge im Alltag, aber kaum jemand außer den Professionellen macht sich darüber Gedanken. Was, zum Teufel, ist eine Bremse? Glaubt ihr etwa, daß es selbstverständlich ist, wenn ein Lenkrad links sitzt? Könnt ihr euch vorstellen, daß es Karosseriebauer gab, die Kotflügel mit Leder bezogen? Wißt ihr, wie es ist und was es bedeutet, einen solchen Kotflügel zu betasten? Ich habe gehört, daß es in Washington in einem Museum Mondgestein geben soll, und daß niemand daran vorübergehen kann, ohne es zu berühren – fühlt es sich wie Erdgestein an? Mein Gott, kriege ich jetzt extraterrestrische Krankheiten, gibt es unbekannte Strahlen in diesem Ding? Ein lederbezogener Kotflügel, das ist die Haut eines Tiers auf einerMaschine, die vibrieren wird vor Kraft. Geschmiedete Muskeln, Adern aus Kupfer, Gelenke aus rostfreiem Stahl. Giraffen-Netzmuster auf einer Kühlerhaube, schwerer dunkelblauer Lack auf einem Horch, einem Daimler-Benz, einem Bugatti La Royale, einem Isotta-Fraschini Tipo 8 B mit einer Landaulett-DeVille-Karosserie des Mailänder Karosseriebauers Castagna. Und was haben wir? Einen fahrenden Hut namens Dacia, eine in einen Frosch verwandelte Sardinenbüchse namens Saporoshez, einen Kleinbürgertraum mit der Aerodynamik eines Schneepflugs namens Wartburg; wir haben ein stotterndes Kommißbrot, geheißen Polski Fiat, eine heulende Zumutung namens Trabant, genannt Rennpappe, Zweitakter mit Schaltung an der Lenkstange, Choque und Auspuffgift, nicht serienmäßig die Ohrenschützer, die wir tragen müßten, wenn wir mit Tempo 70 an die Ostsee knattern und glauben, uns im Inneren eines schreienden Babyrachens zu befinden!« So sagte Richard, trug er es in Weihnachtsvorlesungen Studenten vor. Nur Robert und Ulrich zeigten Interesse, Christian, die Arme verschränkt, blickte zu Boden, als wäre es ihm peinlich, seinen Vater in der Rolle eines Schwärmers zu sehen, Barbara sammelte Fussel von den Blusenärmeln, Niklas und Gudrun begutachteten die farbigen Automobil-Darstellungen, die Richard über den Tisch schob, und wandten sich dann wieder den Kuchenstücken auf ihren Tellern zu) –

    »Ein Oldtimer, ja«, sagte Richard.
    »Nicht irgendeiner«, sagte Dietzsch, »Ein Hispano-Suiza H6B, Baujahr 24, Lenkrad rechts, Sechszylinder-Motor mit 6,5 Litern Hubraum, Hinterradantrieb und 130 Sachen Spitzengeschwindigkeit.«
    »Mechanische Servobremsunterstützung«, sagte Richard.
    »Funktioniert im Rückwärtsgang nicht ganz so gut«, sagte Dietzsch. »Rolls Royce hat das verbessert. Im Grunde eine normale Trommelbremse. Die innere Trommel ist über eine Schneckenwelle mit der Antriebswelle verbunden.«
    »Dadurch tordiert das ganze System«, sagte Richard. »Die Welle macht aber eine Drehbewegung gegen den Uhrzeigersinn. So werden die Kabelzüge für die Vorderräder und die Hebelstangen für die Hinterräder bewegt.«
    »Ein Kabelzug fehlt«, sagte Dietzsch.
    »Das Auto ist gelb«, sagte Stahl.
    »Das Leder ist schwarz«, sagte Richard.
    »Doppelt abgestepptes, roßhaargepolstertes, pflanzengegerbtes Leder von provençalischen Rindern«, sagte Dietzsch. »Das Gelb ist interessant, hat mir schon Kopfzerbrechen bereitet. Für Pampelmusengelb zu satt, für Bananengelb zu geruchlos, weder Cadmiumnoch Indischgelb, Schwefel ist zu grell, es ist auch nicht der Ton von Gummigutt oder Butterblumen, auch kein Nankinggelb, kein Neapel-, kein Hansagelb, kein Eidotter-, kein Safrangelb.«
    »Sondern?« sagte Stahl.
    »Am ehesten Vatikangelb«, sagte Dietzsch. »Vatikanflaggengelb. Papstgelb.«
    »Was ist das für ein Vogel?« Stahl tippte an die Figur auf dem Kühler, sie war über einem querliegenden Rhombus mit geflügeltem Schweizerkreuz angebracht.
    »Ein Storch«, sagte Richard.
    »Aha, ein Storch«, sagte Stahl.
    »Haben Sie was gegen Störche?« sagte Dietzsch.
    »Nein«, sagte Stahl.
    »Hast du doch«, sagte Richard. »›Aha, ein Storch‹ – das klang wie: Alle Tiere mit Flügeln sind Amseln, fliegen sie in der Dämmerung, sind’s Fledermäuse, haben sie einen roten Fleck am Hals, Rotkehlchen.«
    »Es fehlen zwei Reifen, der Auspuff hängt, und kann ich mir mal den Motor ansehen?« sagte Stahl.
    »Der Storch hat eine Geschichte«, sagte Dietzsch.
    »Klar«, sagte Stahl.
    »Dann eben nicht«, sagte Dietzsch.

    – Wenn Museum, dann Verkehrsmuseum, schrieb Meno, oder Gemäldegalerie; auf Drängen Annes 1984 in die Klee-Ausstellung im Albertinum, vor

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