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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Linken, kam ins Zimmer, ohne auf Menos Antwort zu warten, verschob den Schlitten der Schreibmaschine bis zum »Pling« des Glöckchens, öffnete, nachdem sie die Tasche an das Zeilenschaltrad gehängt hatte, den Spind und begann Menos Sachen zu durchwühlen. »Ich hätte wetten können, daß Sie mehrere von diesen Dingern haben. Eine zum Trocknen, eine zum Gebrauch, eine als Ersatz. Na bitte.« Triumphierend hielt sie drei Badehosen hoch. »Wie kann man bei diesem Wetter nur hier drin hocken und – was tun? Sagen Sie bloß, Sie schreiben. Gedichte?« Ihr sandiges Lachen hatte sich etwas geglättet, die Seeluft bekam ihr offenbar, und sie schien weniger zu rauchen. »Hier kann man doch nicht schreiben. Diese gehäkelten Lampenschirme, diese Tischdecken, ein Karo rot, ein Karo weiß, das gleiche auf der Bettdecke, Karo rot, Karo weiß, und ganz kleine Karos immer.« Sie stellte den Zimmer-Rundfunk an. »Man hört: das Meer!« kommentierte sie die von Knistern und Knacken, einzelnen Tiefsee-Skandinaviern und ebenso abrupt glasklaren wie abbrechenden Tschaikowski-Klängen durchkreiselten Gischtgeräusche aus dem »RFT«-Gitterunter der gebleichten Fotografie des FDGB-Vorsitzenden. Meno sah auf Judith Schevolas nackte Füße, die beim Gehen, vielmehr: Tänzeln, die fransigen Jeansröhren in den Kniekehlen zu einer vorwitzigen Knick-Mimik brachten. Sie lief zum Waschbecken, roch an der »Fa«-Seife (ein Geschenk von Ulrich), schnupperte am Rasierwasser, beäugte den buschig geblähten, gamsbarthaften Rasierpinsel, schraubte die Zahncremetube auf, drückte ein Würstchen auf den Zeigefinger und fuhr sich damit rasch und ungründlich im Mund herum. Dann gurgelte sie, spuckte aus, sagte zu ihrem Spiegelbild »Gurke«, streckte dem fasziniert-verdatterten Meno die Zunge heraus. »Na los! Worauf warten Sie? Daß uns dieser Heimdrache mit sozialistischer Moral kommt?« Von der »Lietzenburg« führte ein Pfad durch Heckenrosen und Sanddorngestrüpp. Bilsenkraut roch. Auf geborstenen Treppenstufen sonnten sich Eidechsen und wichen nur zögernd dem vorsichtigen Fuß. Philipp Londoner und der Alte vom Berge waren schon am Strand. Philipp hatte eine Sandburg gebaut, in den Wall einen Windschutz gesteckt. Jetzt war er damit beschäftigt, mit Kieseln die Namen der Nutzer zu legen, SCHEVOLA und ALTBERG hatte er schon fertig. Er saß nackt und gebräunt, ganz vertieft in diese, wie Judith Schevola lachend befand, sehr deutsche Tätigkeit, hatte einen Strohhut aufgesetzt, unter dem das lange Haar offen im Wind wehte. Auch der Alte vom Berge war nackt. Meno hatte etwas gegen FKK, und erst recht gegen die ungezwungene Art, mit der Schevola damit umging. Mit raschen Griffen war sie ausgezogen, behielt nur die Gummisandaletten an; der Strand war steinig, wie überall an diesem Küstenabschnitt. Etwas entfernt winkte der Autor Lührer, wies nach oben, wahrscheinlich war das Fernrohr der »Lietzenburg« auf Judith Schevola gerichtet. Meno beobachtete sie. Auf ihren Lippen lag ein boshaftes Lächeln, sie cremte sich genüßlich ein. War man nicht schon genügend Indiskretionen ausgesetzt hierzulande? Der nackte Körper war Geheimnis, und er sollte es bleiben. Der gleiche nackte Körper war beim Baden unberührbar, bei Flirts geisterte er in den Vorstellungen; er fand, daß man sich etwas vergab, wenn man ihn ohne Hüllen präsentierte, mochte er auch noch so anziehend sein. Man hatte ihn gesehen, für die Phantasie blieb kein Raum mehr. Im Tausendaugenhaus, imdichten Gartengestrüpp allein an heißen Sommermorgen, war Nacktheit etwas anderes. Meno starrte auf Schevolas Strandtasche, Philipp auf seine Steinchen, der Alte vom Berge spitzte die Lippen und tat angelegentlich, als ob er sich die Ohren ausschütteln müßte.
    »Könnte einer der Herren so nett sein, mir den Rücken einzureiben?«
    Philipp warf die Kiesel beiseite, Meno wich dem Blick des Alten vom Berge aus, der sein silbernes Brustfell kraulte, den Kopf schräglegte und mit verzwickten Entschuldigungen, auch wortreicher Selbstironie die Aufgabe übernahm.
    Das Wasser war kalt, hellgrün in den flacheren Bereichen, leicht pfefferminzig im Geschmack. Meno ertrug es stoisch, daß Judith Schevola ihn vollzuspritzen versuchte. Es schien sie zu enttäuschen, daß er nicht kreischte. Das Zisternenwasser zu Hause im Elbsandsteingebirge war auch nicht wärmer. Philipp war ein guter Schwimmer, er wollte ans Kap und hinaus, der Alte vom Berge warnte ihn, es gebe unberechenbare Strudel, und

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