Der Turm
roch nach Brackwasser, Luftpumpenluft, nach Zitronenrauch, den Gudrun gegen all die anderen Gerüche im Bungalow versprühte.
»Hiddensee!« hatte Schiffsarzt Lange ebenso neidisch wie anerkennend gerufen. »Da hat unsereiner noch nie Urlaub gemacht. Schreib uns ’ne Karte!«
Ohne das Angebot der Verbandsgewerkschaftsleitung wäre Meno wieder in die Sächsische Schweiz gefahren, hätte sein Stübchen bezogen, einen Bogen Papier in die »Fortuna«-Schreibmaschine gespannt; aber in diesem Jahr, hatte man ihm mitgeteilt, war er an der Reihe, eines der Zimmer im verbandseigenen Erholungsheim »Lietzenburg« »zu Urlaubszwecken zu nutzen«, wie es im Funktionärsdeutsch hieß; beigefügt war eine dreiseitige Hausordnung. Meno wußte, daß er das Privileg, in der »Lietzenburg« zu wohnen, voraussichtlich nur dieses eine Mal haben würde. Der Wartezeitenturnus betrug etwa dreißig Jahre. Menos Antrag lief seit 1974, er hatte also Glück gehabt. Außerdem wurden Verheiratete bevorzugt. Lektoren zählten zum Fußvolk im Verband. Nur der Leiter des Lektorats I in der Verlags-Zentrale sollte es schon zweimal in die »Lietzenburg« geschafft haben.
Die Fähre tuckerte vom Strelasund, über dem sich die nadeligen Risse der Jakobi-, der Marien- und Nikolaikirche in den schweren Himmel hoben, nach Norden, passierte Altefähr auf Rügen, das wiesenflache Ummanz. Arbogasts Schiff fuhr mit halben Segeln eine Weile parallel, dann frischte Wind auf; der Baron, am Steuerrad, nickte Meno zu, der an der Fährenreling stand und den Manövern zusah, die Herr Ritschel, eine Bootsmannspfeife im Mund, den mit gleichmäßigen Bewegungen kletternden Matrosen pfiff. Die Segel faßten Wind, blähten sich, die schwarzkalfaterte Jacht schnitt fast lautlos vorüber, verschwand im Dunst. Meno stopfte die Kugelkopfpfeife, sah in die flaschengrünen Wellen, auf denen Schwimmfeuer flackerten, bot zuerst Judith Schevola, dann Philipp Londoner von seinen »Orient«-Zigaretten an, lauschte den von Lautsprechergeräuschen zerkratzten Erzählungen des graubärtigen Kapitäns über den Dampfer »Caprivi«, der den Dichter Gerhart Hauptmann nach Hiddensee gebracht habe, über die Palucca und ihre Sehnsucht nach Tanz imflachsblonden Licht des Nordens, das man sonnenanbetend und nackt bei Morgenaufgang begrüßte. Zwischen Ankündigungen von Linseneintopf mit heißen Würstchen fragte der Kapitän, ob alle Passagiere eine Münze in der Tasche hätten, denn das, was in den Wellen trügerisch glitzere, könnten die goldgedeckten Dächer Vinetas sein, das alle Jahrhunderte auftauche, um erlöst zu werden. Einem Jungen namens Lütt Matten sei es erschienen, alle Schätze habe es ihm geboten um eine Mark, einen Groschen, einen roten Heller nur, doch der Junge, in Badehose, habe keine Münze bei sich gehabt, und so sei die Stadt klagend wieder versunken.
»Vielleicht sollte unser Generalsekretär hier tauchen.« Philipp hatte zu Judith Schevola gesprochen, aber sie schwieg, formte mit gespitztem Mund Rauchkringel, die der Fahrtwind zerblies. Wolkenstreifen, rosig und ockerfarben durchblüht, kündigten die Insel an.
Es war Abend, als die Fähre in Kloster anlegte. Philipp Londoner und Meno trugen die Koffer zum Bollerwagen der »Lietzenburg«. Sie warteten, bis die letzten Tagestouristen an Bord gegangen waren, die wenigen Inselgäste landeinwärts sich verlaufen hatten. Die Fähre legte ab, bog in die Fahrrinne nach Schaprode. Judith Schevola machte einen Handstand an der Kaikante, spuckte ins Wasser.
»Riskant«, sagte Meno, als sie sich zurückkippen ließ. »Ich hätte Sie ungern rausgefischt.«
»Über Risiken haben wir uns schon mal unterhalten.« Judith Schevola zerstruwwelte sich das Haar, bis es abstand wie die Borsten einer Flaschenbürste. »Mein Gepäck ziehen die Herren.« »Wie kommt es, daß Sie einen Platz bekommen haben? Wenn ich fragen darf.«
»Sozialistische Bürokratie. Der Verband hat mich rausgeschmissen, aber Gewerkschaftsmitglied mit Anspruch auf einen Urlaubsplatz bin ich noch. Und da ich sowieso nichts vorhatte –« »Wovon lebst du jetzt eigentlich«, fragte Philipp ziemlich schroff; vielleicht war er auch nur wütend, daß er sich mit dem Bollerwagen plagen mußte, dessen Reifen schlaff über die Wegplatten schlurrten. Von den zehn Gepäckstücken gehörten sechs Judith Schevola.
»Du wirst es nicht glauben, ich bin jetzt Nachtwächterin.«
»Welcher Hirnverbrannte stellt denn für so was eine Frau ein.« »Einer, der nicht
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