Der Turm
Gäste druckfrische Exemplare des »Neuen Deutschland«, der »Jungen Welt«, der »Ostsee-Zeitung«, an den Herrentischen außerdem das »Magazin«, an den Frauentischen die »Für dich« und die »Sowjetfrau«. Das wöchentliche Exemplar des »Eulenspiegel« ist angekettet und kann wegen der begrenzten Kettenlänge nur am Beistelltisch neben dem Eingang gelesen werden. Die Sitzordnung ist nicht frei wählbar. Es gibt eine Tafel mit Einsteckstreifen (schreibmaschinebeschriftet, blau und rosafarben), jeden Morgen orientiert man sich, wo man sitzt. Um größtmögliche Vermischung und damit »ein Höchstmaß an kommunikativem Kontakt zu gewährleisten« (Zitat Hausordnung), wandern die Herren, wandern die Damen; immer getrennt. Aber was nützt all das, wenn der Alte vom Berge seine private Serviette ausbreitet, Philipp sein eigenes Besteck mitbringt, Judith auf Karlfriede Sinner-Priests Bemerkung, Fräulein Schevola dürfe eigentlich nicht hier sein, die Assiette beiseite fegt und aus dem Raum schlendert, und der Autor Lührer allzu betont ein »Nutella«-Glas zwischen sich und den armen Lektor Rohde schiebt.
(Mittwoch, abends)
Grillen –
Prag 68. Der dritte Weg. Versteinerte, monumentale Gesichter an den Canyons Heiliger Theorien. Das kahle Du oder Ich, das, wie alle Unausweichlichkeiten, weder ohne Komik noch ohne Langweile ist. Dort, in der ČSSR 68, schien sie möglich, die humane Gesellschaft, die nicht vergißt, daß sie aus Individuen besteht.Demokratie und Offenheit im Gespräch. Kritische, aber nicht Öffentlichkeit um ihrer selbst willen.
Schevola: »Ein Traum, Herr Rohde. Von Panzern überrollt.«
Der Alte vom Berge: »Vielleicht haben Dubček und seine Freunde nur Glück gehabt.«
Philipp: »Sie als Ketzer? Man höre!«
Der Alte vom Berge: »Die leuchtendsten Träume sind die, die nie Wirklichkeit zu werden brauchten. Halten Sie denn, Herr Londoner, einen kapitalistischen Sozialismus ernsthaft für möglich? Freiheit der Produktion, der Reaktion auf den Markt, erfordert Freiheit der Gedanken. Ihr Vater hat jüngst Interessantes darüber geäußert.«
Philipp: »Die Gedanken müssen nicht unfrei sein im Sozialismus. Der unfreie Sozialismus ist keiner. Die echte sozialistische Gesellschaft entwickelt sich aus ihren benannten und bemeisterten Widersprüchen.«
Schevola: »Dann leben wir nicht im Sozialismus.«
Der Alte vom Berge: »Sagen Sie das nicht so nachdrücklich, meine Liebe. – Dubček steht als Märtyrer da, Prag achtundsechzig als Legende. Sie konnte ein Mythos werden, weil ihr das Scheitern erspart worden ist. Nun sind die Bruderstaaten schuld, und wir haben eine Märchenblume, die nie im Acker der Wirklichkeit beweisen mußte, ob sie tatsächlich so schön blüht wie verheißen. – Sie halten mich für einen Opportunisten. Mag sein, daß ich das bin. Mag sein, daß ich feige bin. Ich sitze in Verlagsbeiräten, habe hin und wieder das Ohr des Buchministers – und habe es nicht gewagt, energisch für Ihr Buch einzutreten, Judith. Ich bin sogar bereit, in mir selbst zu forschen und zuzugeben, ein häßliches Stückchen Neid dort unten entdeckt zu haben. Ich bin ein Zensor, und kein angenehmer. Ich war in der SA. Ich war Soldat in der Wehrmacht. Ich war im Lager. Ich glaubte an das Gute im Menschen, trotz allem, was ich sah. Ich bin ein Kind geblieben. Ich habe Angst. Auch um dieses Land. Ich bin nicht mehr jung, und mein Leben bestand aus kaputtgehenden Träumen, Tag um Tag. Ich glaube an nichts mehr.«
Schevola: »Amen.«
Philipp: »Sie sind alt, das ist alles. Verdauungsprobleme, Juckreiz, man hat alles schon gesehen … der ganze Kram eben! Aber unsmachen Sie es schwer. Solche wie Sie gibt es viele hierzulande, und leider oft in einflußreichen Positionen. Abwinken, müde Hände, müdes Blut – aber wir brauchen Kraft, Zuspruch, es ist nicht leicht«
Schevola: »– ein Revolutionär zu sein? Täterätää! Es ist so schwer, die Menschheit zu beglücken.«
Der Alte vom Berge: »Und dabei höflich zu bleiben. Ich nehme Ihnen nicht übel, daß Sie mich als alten Mann abtun. Aber der Juckreiz … das ist indiskret, mein Junge.«
Philipp: »Judith Schevola, die Gelassene, die Zynische, die Ironische. Reiß nur deine Klappe auf. Mach dich lustig über uns. Wir glauben noch an etwas. Und woran glaubst du? An nichts! Wie Sie, Herr Altberg.«
Der Alte vom Berge: »Jaja, ich sagte es schon. Früher hieß das Defätismus. Erschießen stand darauf.«
Philipp: »Dann treten Sie doch ab,
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