Der Turm
einmal mehr Rentner dafür kriegt. – Auf einem Friedhofs- und Krematoriumskomplex. ›Zuviel Zukunft, zu viele Bekannte‹, hat mein siebzigjähriger Vorgänger gesagt, als er mir die Schlüssel in die Hand drückte.« Sie zog Schuhe und Strümpfe aus, warf sie in den Wagen, den Meno ziehen half, krempelte die Jeans hoch, platschte durch eine Pfütze. Pferdekutschen kamen entgegen. Radfahrer klingelten um Platz. Es wurde kühl, der Wind strich von See. Die Mücken sirrten, Philipp klatschte sich fluchend auf den Nacken, betrachtete angewidert, was er erschlagen hatte. Die alten Kastanien entlang der Hauptstraße von Kloster mischten ihren Duft in den von Kuhdung und Heu, der von den ausgestreckten Wiesen zwischen Kloster und Vitte kam. Ein »Schwalbe«-Moped näherte sich, stoppte die drei; der Abschnittsbevollmächtigte tippte an seine Mütze, verlangte die Zimmerbescheinigungen zu sehen. Als er »Lietzenburg« las, wies er darauf hin, daß Musenküsse nach zwanzig Uhr nicht gestattet seien. Der Weg wurde sandig, als sie von der Hauptstraße, an der Bäckerei Kasten vorbei, in Richtung Norden abbogen. Urlauber kamen ihnen entgegen, gebräunt und aus der Zeit gefallen. Frauen in wallenden Batikkleidern, viel Holzschmuck, Armreifen aus farbigen Lederriemchen, Sandalen mit Glasperlenschnüren; pfeiferauchende Männer mit Künstlermähnen und Jesus-Look, seltener kurzgeschorenem Haar und Proletarierjoppe à la Brecht. Unter den ausladenden Kastanienkronen reetgedeckte Häuser, erste Lichter huschten auf.
Er hätte weggehen können, und vielleicht wäre ihm Anne nicht gefolgt; Christian spürte, daß sie mit ihm sprechen wollte, aber er haßte Sentimentalitäten: Tränen, Eingeständnis von Schwäche, Verzweiflung, er dachte: den ganzen Frauenkram eben; er stellte sich vor, seine Mutter würde ihn auf einem solchen Spaziergang mit Gejammer und Schluchzen – oder noch schlimmer: mit nichts von alledem, nur mit verständnisvollem Schweigen – windelweich machen: wozu? Was hätte es geändert? Sie saßen vor dem Bungalow, ein Windlicht brannte, nicht genug für Regines Briefe, die Richard vorlesen wollte; Niklas knipste die Lampeüber dem Eingang an. Christian ging nicht. Er war müde, angenehmerweise fragte ihn niemand etwas, die Luft war lau, Grillen zirpten schläfernd, im Liegestuhl lag es sich bequem. Gudrun machte den Vorschlag, auf der Rückfahrt Ina in Berlin zu besuchen; der kleine Erik sei inzwischen aus dem Gröbsten heraus, da falle Besuch nicht mehr lästig. Anne hatte Tee gekocht. Trillerpfeifengeschrill zerkleinerte die Ferienlagerruhe, Kinder traten vor den Bungalows in zwei Reihen an. Richard las nicht lauter.
»… die Tür wurde von außen zugeschlagen. Schon fuhr der Zug an. Wir verstauten das Gepäck. Keine Umarmung vor der Grenze, wir waren abergläubisch! Der Zug hielt auf freier Strecke. Draußen rannten so kleine Uniformierte herum, ich dachte, das sind Russen; ein Gewusel und Getrappel, schon stand einer im Abteil. »Ausweise und Zollkontrolle!« im vogtländischen Dialekt. Und noch mal Angst, geht alles gut? Die Gepäckstücke wurden gemustert. Als erstes kramte er in meiner Handtasche. »Was ist denn das«? Philipps Wunschliste, ich hatte sie für ihn aufgeschrieben. Darauf stand: Papa. Ein Pfirsich, so groß wie ein Fußball. Der Uniformierte steckte den Zettel ein. »Und das?« Ich hatte für Philipp eine Fahrerlaubnis mit Paßbild und gemaltem Stempel für seinen Liliput gebastelt (er war ein Meister auf dem Tretroller, konnte besser rückwärts einparken als ich mit dem Auto). Ich rang mir eine Erklärung ab. Meine Nerven waren ziemlich überreizt. Er klappte das Mäppchen zu, steckte es in die Handtasche, gab sie mir. »Gute Reise!« – und war aus dem Abteil. Kurze Zeit noch Lärm auf dem Gang, Poltern, mißvergnügte Stimmen. Dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Hansi ärgerte sich, daß der Kerl die Wunschliste gestohlen hatte. Philipp hat seelenruhig alles verschlafen. Vor Erschöpfung sind wir dann auch eingenickt. Bremsengekreisch, »Loandshuut« von draußen. Gegen 11 Uhr war die Familie glücklich im Hauptbahnhof München vereint.«
Robert ging in den Bungalow; er wollte zum Nachtangeln an den Bodden. Das Windlicht knisterte von stürzenden, aufflitternden Insekten. Die Fliegenpilzlampen wehten an, eine nach der anderen, und aus jeder fiel Helligkeit, dachte Christian, wieMilch aus einem Krug in der Hand eines Mädchens. Da war ein Sog in der Kiefernwand hinter dem
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