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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Ferienlager, Rausch und Auflösung am fließend ins Dunkle gezogenen Himmel, Christian fühlte sich beklommen. Niklas zündete sich die Shagpfeife an. Gudrun gurgelte mit Tee, lehnte sich zurück, beide Arme auf den Liegestuhlstützen; begann zu rezitieren, Verse, die Christian nicht kannte:

    »Schlaflosigkeit. Homer. Die Segel, die sich strecken.
    Ich las im Schiffsverzeichnis, ich las, ich kam nicht weit:
    Der Strich der Kraniche, der Zug der jungen Hecke
    Hoch über Hellas, einst, vor Zeit und Aberzeit.«

    Sagte: »Mandelstam«. Jetzt nahm Niklas die Pfeife aus dem Mund und deklamierte:

    »Und vom Apfelbaum fällt der Schnee
    in des Vaters Bart blütenweiß.
    Wie ein goldner Frosch weit im See
    schwimmt der Mond seinen stillen Kreis.«

    Sagte »Jessenin«. Sagte Anne:

    »Wie jener Kranichkeil, in Fremdestes getrieben –
    Die Köpfe, kaiserlich, der Gottesschaum drauf, feucht –
    Ihr schwebt, ihr schwimmt – wohin? Wär Helena nicht drüben,
    Achäer, solch ein Troja, ich frag, was gält es euch?«

    Sagte »Mandelstam«. Sagte Robert: »Ich geh’ jetzt angeln.« Sagte Christian nichts.
    Holte Richard das Akkordeon, sang:

    »Hand und Wort? Nein, laß – wozu noch reden?
    Gräm dich nicht und werd mir nicht so fahl.
    Sterben –, nun, ich weiß, das hat es schon gegeben;
    doch: auch Leben gabs ja schon einmal.«

    Setzte ab, sagte: »Jessenin«. Sagte Gudrun:

    »Homer, die Meere, beides: die Liebe, sie bewegt es.
    Wem lausch’ ich, und wen hör ich? Sieh da, er schweigt, Homer.
    Das Meer, das schwarz beredte, an die Ufer schlägt es
    Zu Häupten hör ichs tosen, es fand den Weg hierher.«

    Sagte: »Mandelstam«. Christian sagte nichts. Anne weinte.

49.
Auf Hiddensee
    Trudelte da nicht eine von den grauen Schwestern, wie Falkenhausen sie genannt hatte? Kreuzspinne mein, Querspinne dein. Oder war’s eine Flügelfrucht von den Schattengebern, die um die »Lietzenburg« standen und der Sonne nur Zehenspitzen gestatteten? Die Spinne trippelte am Fensterrahmen hoch, verharrte, hob das Hinterteil (jetzt ließ sie wohl die Flugfäden schießen, man sah es nicht), wartete, bis die Zugspannung ihr signalisiert haben würde, daß sie loslassen konnte – weg. Meno sah zum Himmel: klare, wolkenlose Tage, trockenes Blau, Marienwetter, hatten das die alten Leute in Schandau genannt. Angeschürfter, nicht mehr müheloser Sommer, erste Wärmeschulden, quittiert von Nachtkälte; Überhänge schon im Blüten- und Insektengeschehen, Last, die aufwärtsweisende Kräfte niederbog. Er dachte an die Kliffs im Norden der Insel. Dort quirlte Svantevits Zorn, kochte Strömung und Schlamm, fuhr über Lehmkleister, das glattgespülte, kitthelle Zahnfleisch des Strands, drehte Dünungs-Töpferscheiben, knarrte auf Wasserorgeln, zurrte Wellen-Frisbees, die jeden Schwimmer mitrissen, spitzte die Brandung zu Messern, die tief in den Inselrumpf stachen, krallte sich Kies und Ton, schälte, unermüdlich in immer neu aufgeschaukelter Rage, Hohlkehlen, Stollen, Höhlen in die Steilwände, von denen es bröselte, bröckelte, sackte; Miniergänge rutschten zwischen Steinnasen voran, die längst zernagtes Festland markierten und, angekündigt von rieselndem, kollerndem Grus und Staubfahnen, in die See oder auf den schmalen, noch verbliebenen Strandstreifen brachen.An der Hangkante rissen Wiesen wie nasses Papier. Kiefern, tapfer und zäh gegen Wind-, gegen Orkankarussells, knickten nach unten. Die karge Vegetation auf den lichtlastenden Kliffflanken wurde geschleift. In den Brandungsrinnen gluckerte, toste, peitschte, schluchzte, sirrte, paukte, stampfte es, nach Windrichtung und -stärke; in den Herbstböen, sagte der Alte vom Berge, der das Zimmer gegenüber Philipp Londoners am Ende des Flurs hatte, hörte es sich manchmal an wie ein wrackgehendes Schiff: Holzknirschen, Mastsplittern, brodelndes, in die Meeresgurgel geschlungenes, vom Knurren und Heulen der Sturmorchester umtanztes Ertrinken. Kreuzspinne auf der Räderharfe. So flogen sie also schon, die jungen Spinnen. Kam der Altweibersommer früh dies’ Jahr. Für Judith Schevola nur ein Grund mehr, sich fremde Kleidung zu borgen (trotz Gepäck im Halbdutzend – »ich finde immer jemanden, der mir das schleppt«), zu Philipps Anzügen Menos Pullover zu tragen, wenn man abends in der Halle am Kaminfeuer beisammensaß. Es klopfte.
    »Kommen Sie mit? Wir wollen baden.« Judith Schevola wog eine aus Stoffstreifen zusammengenähte, regenbogenbunte Strandtasche mit dem Zeigefinger ihrer

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