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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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glauben. Ich würde schneller sein als Sie, den Schlag nach oben lenken, sehen Sie, so«, Marisa demonstrierte es, »und Sie dann dort treffen«, Marisa stoppte ihre kleine weißbehandschuhte Faust vor Judiths Adamsapfel.
    »Erst der Mann, dann das Messer.« Judith betrachtete die offene, stabheuschreckenhaft schlanke Klinge.
    »Sie würden für Philipp zustechen?«
    Judith blickte sich nach Philipp um, der das Buch beiseite gelegt und rittlings auf dem Ast sitzend begonnen hatte, sich die Fingernägel zu schneiden. Hin und wieder rief er »albern«, schob sich den cremefarbenen Hut aus der Stirn, kam aber nicht näher, und ich sah nach dem Alten vom Berge, der inzwischen an seiner Schreibmaschine in der Sonne saß, Leimtopf, Konzeptpapier und Schere neben sich, und ohne aufzumerken am Bergprojekt werkelte. Judith sagte: »Sie können das Messer haben. Ihre Forderung ist derart unverschämt, daß sie mir schon wieder gefällt. Ich mag es, wenn eine Waagschale eindeutig nach unten saust. Wenn schon verlieren, dann richtig, sagt die andere Schale. Aber sie ist leer und frei.«
    »Sie wollen von außen zustechen, aber das ist ganz falsch. Kommen Sie, ich zeige es Ihnen.« Marisa entwand ihr das Messer, henkelte Judith unter, sie gingen in Richtung »Lietzenburg« davon, in ihr Gespräch vertieft, die Köpfe eng beieinander.

    Der Alte vom Berge schrak zusammen beim Klang der Uhr; im Bibliothekszimmer der »Lietzenburg« saß außer ihm und Meno niemand. Er nahm die Lesebrille ab, erhob sich ächzend, stellte das Apollodor-Buch zurück ins Regal neben den Stapel »Sibylle«-Zeitschriften, aus denen Karlfriede Sinner-Priest abends, wenn der Wachtturm auf dem Dornbusch Lichtsektoren über die Insel und das Meer tasten ließ, Stil-Kostproben zum besten gab; es waren vom Ticktack der Standuhr und, da es mit Einbruch der Dämmerung schon kalt wurde, dem beifälligen Schmauchen des mit Windmühlen-Kacheln verkleideten Ofens gehätschelteStunden. Da saß Zensor neben Zensorin, sie in Häkel-Stola, er in Strickjacke, und beide mit beflogenen Wangen, denn machte ihr Schaukelstuhl »knirr«, machte sein Schaukelstuhl »knarr«. »Zeit, Herr Rohde. Barsano läßt man nicht warten.«
    Marisa und Philipp stießen am Strand zu ihnen. Sie trugen Gitarren an folkloristisch bunten Flechtgurten geschultert und sahen wie Abenteurer aus mit ihrem salzstarren Haar unter Strohhüten, die zerfranste Schattensterne auf die Füße warfen, die sie, am vor- und zurückschwingenden Wassersaum mit seinen bewußtlos taumelnden Muscheln watend, von glitzernden Händen abtasten ließen. Sie gingen in Richtung Kap, dessen Schroffen schon Abendröte sammelten, nahmen einen der Pfade, die davor die Steilküste hinaufführten. Am Pfadrand wuchsen Odermennig und Schafgarbe, Schwarze Königskerze und der Bittersüße Nachtschatten, die der Alte vom Berge, zu Menos Erstaunen, ohne langes Besinnen ansprach: »Ein Apothekerssohn, Herr Rohde, sollte hinreichende botanische Kenntnisse besitzen –«. Den Rest des Satzes verschluckte Motorengebell. Hinter dem Kap preschten Buggies durch die Brandung und die Düne hinauf, die hier durch Sandabbrüche flacher anstieg. Philipp beschattete die Augen. Meno erkannte die Kaminski-Zwillinge, in den übrigen drei Wagen saßen Mitglieder des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Einer der Zwillinge brauste die Anhöhe hinauf, stoppte vor Philipp. »Na, Herr Londoner, in welche Spalte Ihrer Tabelle fällt diese Aktivität?« »Frechheit«, versetzte Philipp, ohne sich zu besinnen; Meno griff ihm in den Arm.
    »Hüten Sie Ihre Zunge, Meister Londoner, das haben wir Ihnen schon mal gesagt. Ah, Herr Rohde, auch eingeladen? Wie geht’s daheim? Frau Honich wird sich grämen, daß Sie nicht da sind.« Kaminski – Meno konnte immer noch nicht sagen, wer von beiden Timo war und wer René – grinste, warf einen flüchtigen Blick auf Marisa, übersah den Alten vom Berge.
    »Ich dachte, auf der Insel wären Motorfahrzeuge verboten?« Philipp starrte Kaminski an, der gelassen an seinen Rennfahrerhandschuhen aus durchbrochenem Wildleder zog. »Auch ’ne Runde? Ich heiße Timo.«
    »Danke, nein, Compañero.« Marisa versuchte Philipp zumWeitergehen zu bewegen, aber da winkte schon Barsano. Timo Kaminski grüßte mit zwei Fingern am Basecap, der Buggy schoß aufheulend in Richtung Strand. Philipp schickte ihm einen Fluch hinterher. Der Vater sei ein hochgestellter Nomenklaturkader, ein echter Kämpfer noch,

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