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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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schreiben sie das. Die spüren ganz genau, daß ihnen die Puste auszugehen beginnt. Was sind die vier Hauptfeinde des Sozialismus? Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Oder was glaubt ihr, warum die es immer wieder für nötig halten, die Steigerung der Arbeitsproduktivität anzumahnen … Ohne Konkurrenz geht nichts, das ist meine Rede.«
    »Aber Richard, du wirst doch nicht bestreiten wollen, daß, je mehr gerüstet wird, je mehr Waffen es gibt – und die gibt es ja hier bei uns, hier werden die doch stationiert, all die Raketen –, desto höher ist das Risiko eines Krieges! Wo es keine Waffen gibt, ist auch ein Krieg nicht möglich. Das kannst du doch nicht wegdiskutieren!«
    »Ach was, Krieg.« Richard machte eine wegwerfende Handbewegung. »Davon rede ich ja gerade, Meno. Glaube doch nicht, daß den einer wirklich will. Sind doch alles keine Idioten. Zwischen Aufrüstung und Krieg wird immer eine Parallele gezogen von unseren Medien. Und umgekehrt zwischen Abrüstung und Frieden. Das Paradoxe ist aber – der Mensch ist offenbar aus so krummem Holz geschnitzt –, daß er die Fingernägel zum Augenauskratzen nimmt, wenn er sonst keine Waffen hat. Hat er dagegen Raketen, und weiß er, daß der feindliche Stamm da drüben hinter dem Palisadenzaun ebenfalls über Raketen verfügt – gibt er Ruhe und geht sein Feld bestellen. Komisch, aber wahr.«
    »Na, entschuldige, aber das ist nicht wahr, sondern Unsinn, Richard.« Meno runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Keine Waffen – kein Krieg, dabei bleibt es. Fingernägel wären ja, um in der Terminologie zu bleiben, auch Waffen, beziehungsweise würden als solche eingesetzt. Das möchte ich doch festhalten. Im übrigen wundert es mich, daß gerade du, als Arzt, als Chirurg, dem Aufrüsten das Wort redest –«
    »Moment. Ich rede der Menschlichkeit das Wort. Und ich überlege mir, welche die beste Methode ist, aus einem unmenschlichen System herauszukommen. Diese Systeme haben ihre eigenen Gesetze … Einmal installiert und gefestigt, kehren sich darin die Prinzipien des gesunden Menschenverstandes um! Man wird Diktatoren nicht dadurch los, daß man sich mit ihnen lieb Kind oder gar gemein macht. Dieser Menschentyp kennt und anerkennt nur ein einziges Gesetz: Das des Zwangs, mein Lieber!«
    »Aber Aufrüstung erhöht die Kriegsgefahr, ich wiederhole mich, und wo die Kriegs gefahr erhöht ist, da ist auch die Gefahr erhöht, daß einmal wirklich etwas passiert, das wirst du doch nicht in Abrede stellen … Eine Rakete, die auf uns zumarschiert, macht allen Diskussionen ein Ende! Willst du das – als Arzt?«
    Richard geriet in Hitze. »Als politisch denkender Mensch, lieber Schwager! Der seinen Verstand und seine Beobachtungen nicht dadurch ablegt, daß er einen weißen Kittel trägt!«
    »Was mich beunruhigt«, warf Ulrich ein, der sich neben Christian gesetzt hatte und wohl die Wogen etwas glätten wollte, »ist das, was Tschernenko und Andropow so ziemlich in der Mitte ihrer Reden gesagt haben. Den Frieden könne man von den Imperialisten nicht erbitten, sondern nur verteidigen, indem man sich auf die starke Macht –«
    »– unüberwindliche«, unterbrach Niklas und hob den Eislöffel, »unüberwindliche Macht! Ich habe mir das im ›Tageblatt‹ angestrichen!«
    »Nun, dann so. Also unüberwindliche Macht der sowjetischen Streitkräfte stützt. Klingt ziemlich militant. Das beunruhigt mich.«
    Siehst du, da hast du’s, schien Richards triumphierender Blick, den er Meno zuwarf, sagen zu wollen. Sein Eisbecher war bereitsleer, obwohl er eine große Portion gegessen und mehr gesprochen als sich auf den Genuß der Eiscreme konzentriert hatte. Christian argwöhnte, daß sein Vater in der Hitze der Rede gar nicht bemerkte, was er aß. Richard schwenkte den Löffel. »Was das heißen soll, ist ja auch glasklar. Daß wir natürlich weiter an der kurzen Leine Moskaus hängen werden und daß keine Lockerung eintreten wird, im Gegenteil. Ich habe die beiden Reden genau gelesen. Übrigens, Meno, stimmt es nicht, daß sie nicht schreiben, daß Andropow Geheimdienst-Chef war. Zwischen den Zeilen schreiben sie’s nämlich doch. Tschernenko sagte, laßt mich mal kurz überlegen … ja. Juri Wladimirowitsch habe Erfahrungen aus vielseitiger Tätigkeit in der Innen- und Außenpolitik auf dem Gebiet der Ideologie. Auf dem Gebiet der Ideologie, ich bitte euch, was heißt denn das? Innenpolitik und Außenpolitik, wenn man die beiden Begriffe zusammenzieht, sehe ich

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