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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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doch drei dicke kyrillische Lettern leuchten, K, G und B … Außerdem sagt Tschernenko, daß Andropow bei der Festigung der sozialistischen Gemeinschaft und bei der Gewährleistung der Sicherheit – Meno, was meinst du als sprachsensibler Mensch eigentlich zu diesen ewigen Genitiven –, der Sicherheit unseres Staates eine große Arbeit geleistet habe … Na, und wo kann er die denn wohl geleistet haben, bestimmt nicht im Kolchos … Ich sage euch, nicht einen Millimeter wird dieser Andropow vom Dogma abrücken! Und Tschernenko?«
    »Er sagt, daß alle Mitglieder des Politbüros der Ansicht sind, daß sich Juri Wladimirowitsch den Leitungsstil Breshnews gut angeeignet hat«, antwortete Christian. Die Erwachsenen sahen ihn erstaunt an. »Wir haben die Artikel in der Schule durchgenommen, in Staatsbürgerkunde. Allerdings«, er mußte lächeln, »ohne eure Schlußfolgerungen.«
    »Die bleiben auch hübsch unter uns, Christian, hörst du?« mahnte Anne leise.
    »Ja, genau. Gut angeeignet, so hieß es. Mit einem Wort: Beton! Und wenn ich lese, was dieser Andropow noch sagt, wie war das, na, so etwa: Jeder von uns weiß, welchen unschätzbaren Beitrag Leonid Iljitsch Breshnew zur Schaffung – zur Schaffung, meine Güte, immer diese Substantivierungen in diesen Schriebsen, manchmal hat man den Eindruck, daß die das absichtlichmachen, um die Leute vom Weiterlesen abzuhalten, und im letzten Drittel verpacken sie dann das, worauf ’s ankommt …«
    »Das ist mir auch sauer aufgestoßen, Richard, sehr sauer, ich weiß, was du meinst!« Niklas nickte empört. »– zur Schaffung jener gesunden, moralisch-politischen Atmosphäre geleistet hat, die heute das Leben und Wirken der Partei kennzeichnet … Das ist doch der Gipfel an Zynismus, wenn man mal von Mielkes Aufruf an die Genossen von der Stasi absieht, der wahrhaftig den Vogel abschießt, Tschekisten redet er sie an, Tschekisten, es kommt einem ja hoch dabei; das ist Rechtfertigung der Lager …«
    Die politische Diskussion ebbte bald ab, da Anne, die bemerkte, daß die Spannungen zunahmen und Richard sich immer weiter hineinsteigerte, Niklas und Meno ein Zeichen gegeben und das Gespräch in andere Bahnen gelenkt hatte. Außerdem, sah Christian, mißfiel es ihr als Gastgeberin, daß es drei oder vier Gesprächsgruppen gab, die völlig aneinander vorbeiredeten. Also mußte Alice die Fotos noch einmal hervorholen und Sandor noch einmal von den Galápagosinseln erzählen, wo sie per Schiff gewesen waren; Niklas danach von der Tournee der Staatskapelle Dresden nach Westdeutschland, die er hatte als Vertrauensarzt begleiten dürfen.
    »Großer Erfolg, großer Erfolg … und die Fressalien, die die für uns arme, ausgehungerte Zonis aufgebaut hatten … Da haben wir wieder mal gesehen, was für eine durch und durch de-kaden-te Gesellschaft der Imperialismus ist, und wie prächtig er stirbt …« Niklas winkte ab und schloß auf Detailfragen hin nur die Augen, um ein waschecht dresdnerisches »Oooch«, einen Laut der Bewunderung und Überwältigung bei gleichzeitigem Wissen um die Beschränktheit hiesiger Gastronomie, zu hauchen und noch mals abzuwinken. »Aber, meine Lieben, was ihr heute abend auf die Beine gestellt habt, das macht euch hier so schnell keiner nach, und wenn er der Chef des VEB ›Delikat‹ persönlich ist!«
    Dann sprach Niklas über die »Entführung aus dem Serail«, die kürzlich im Großen Haus aufgeführt worden war. Hier war er ganz in seinem Element, erzählte ausführlich und anschaulich, ahmte die Gestik des japanischen Dirigenten nach, der nachMeinung der meisten Kapellmitglieder das tödliche Verdikt eines »Ahnungslosen« verdiente; gab Anekdoten zum besten, die im Theater kursierten. Eis und Nachtisch waren verschmaust; alle waren vom genossenen guten Essen, der Geselligkeit und von Niklas’ Erzählungen erheitert. Gegen elf brach man auf.

    Die übriggebliebenen Speisen und Getränke wurden zusammengepackt.
    »Ich mache Regine und Hansi ein Extrapäckchen zurecht, sie werden Hunger haben.«
    »Ja, gut, Anne. Ich kümmere mich um die Geschenke.« Richard ging zur Staffelei. Meno half Anne und Adeling beim Einpacken der Speisen. »Wie geht es Regine?«
    »Nicht gut, glaube ich. Sie sagt das zwar nicht; aber sie sieht schlecht aus. Die schikanieren sie, und Hansi wird in der Schule auch schikaniert.«
    »Wie lange wartet sie schon?«
    »Seit heute morgen um neun. Als ich wegging, so gegen fünf, war noch kein Anruf gekommen, und als Richard

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