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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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ist nichts, ich möchte nichts, danke.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber ihr? Vielleicht möchtet ihr …?« Sie sah in die Runde. »Es gibt noch Eis mit Früchten!«
    »O ja!« riefen Ezzo und Robert gleichzeitig.
    Adeling tupfte die Fingerspitzen zusammen, wippte auf den Absätzen und nickte Anne zu. Er und ein zweiter Kellner brachten das Eis.
    »Aber sagt mal, Alice und Sandor«, murmelte Niklas mit Verschwörerstimme, wobei er den langen Eislöffel hob, auf dem ein pflaumengroßes Stück Pücklereis glitzerte, »– wie ist denn das nun mit Kohl? Wir hören doch bloß Lügen.«
    »Ja … besser, würden wir sagen, nicht, Alice?« Alice blinzelte irritiert, als sie ihren Namen hörte, rückte an der Brille und nickte vage in Sandors Richtung. Emmy sprach gerade von ihren vielen verschiedenen Leiden und entwickelte dabei soviel bannende Beredsamkeit, daß Gudrun, Barbara und Alice völlig gefangen saßen. Gespannt hörten die Umsitzenden zu, wie Sandor, ein Mittvierziger mit olivbraunem Teint und stark ergrautem, aber vollem Haar, das in feiner Wellenlinie über die Stirn lief, von den Vorgängen im bundesdeutschen Parlament erzählte, die zum Mißtrauensantrag gegen Helmut Schmidt und schließlich zum Sturz des Kanzlers geführt hatten. Seit zwanzig Jahren lebten Alice und er in Südamerika, was dazu geführt hatte, daß Sandor beim Sprechen manchmal nach Worten suchen mußte und die harten, konsonantischen Pausen des Deutschen zwischen denWorten kaum noch sprach, sondern die Wortenden aufweichte und durch ein Fugen-»Äh« miteinander verschmolz. Wohl niemand hätte ihn, weder von seiner Aussprache noch von seinem Äußeren her, für jemanden gehalten, der in Dresden geboren worden war.
    »Euren Oberen-äh-wird die ganze Entwicklung natürlich nicht passen-äh-und-äh-ich denke-äh-daß Kohl die bisherige Politik der Annäherung-äh-die die Sozialdemokraten sich auf die Fahnen geschrieben haben-äh-radikal ändern wird …«
    »Hoffentlich«, ließ sich Niklas leise vernehmen und nickte bedeutsam. Seine linke Hand zuckte nervös, als er den Eislöffel mit der Rechten tief in die Erdbeerschicht des Pücklereises stach. »Einmal muß es ja ein Ende haben mit dem Wandel durch Anbiederung, den die Herren da drüben betrieben und über den Breshnew und Konsorten doch nur gelacht haben. Auf dem Bauch sind die vor den Russen und ihren Paladinen gekrochen, man hat sich ja geschämt! Wollten den Frieden bringen und Entspannung, ach du liebe Güte!« Niklas fegte einige Eistropfen weg, die bei der allzu entrüsteten Aussprache des »P« bei »Paladinen« vor der Schale gelandet waren.
    »Weicheier, Niklas, alles Weicheier! Und Achtundsechziger, die irgendwelchen Traumtänzereien nachhängen, aber von der Realität keine Ahnung haben … Sollen sie doch herkommen und hier bei uns leben, oder im schönen Moskau, wenn der real existierende Sozialismus so wunderbar ist! Aber das wollen die Herrschaften auch nicht, ganz so blind sind sie denn doch nicht!« Richard war die Zornesröte ins Gesicht gestiegen, er schlug sich mit der Hand mehrmals gegen die Stirn. »Die wollen die DDR anerkennen, allen Ernstes! Mit der Teilung müsse man sich eben abfinden, das sei eine historische Tatsache, und die DDR ein Staat wie jeder andere auch! Daß ich nicht lache! Dieser Staat, pfff, der nur dadurch legitimiert ist, daß die Bajonette der Russen ihn stützen! Der sofort, ich sage euch: so-fort! zusammenbrechen würde, wenn es wirklich einmal freie Wahlen gäbe …«
    »Richard, bitte.«
    »Hast ja recht, Anne. Aber es regt mich nun mal auf. Diese windelweiche Politik … gegen diese Betonköpfe! Reagan macht esrichtig, der gibt sich keinen Illusionen hin, die Russen verstehen nur eine harte Sprache … Totrüsten.«
    »Aber – Richard, totrüsten … und wenn nun einer durchdreht und auf den roten Knopf drückt? Ist dann das, was Reagan macht, richtig – auch um diesen Preis?« Meno stocherte nachdenklich in seinem Eisbecher herum. Reglinde, Ina, Ezzo und Robert, die solche Gespräche aus vielen Zusammenkünften schon kannten, unterhielten sich, ohne auf den Gang des Disputs zu achten. Emmy war inzwischen bei ihrer Hüftoperation angelangt, die sie aber der geduldigen Gudrun allein erzählte, während Alice den Rohdes, die sie noch nicht gesehen hatten, Fotos ihrer vier Söhne und von der letzten Urlaubsreise zeigte.
    »Jaja, roter Knopf, das ist immer das Argument, das in unserer verlogenen Presse steht. Weil sie Angst haben,

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