Der Turm
Wachhabenden schwamm wie eine winzige Insel mit einem gelben Positionslicht in der Dunkelheit vor der Treppe, Costa saß daran und las.
Auf der Toilette brannte kein Licht. Christian spürte, daß jemand hier war, er hatte einen sechsten Sinn dafür, konnte verschlossenen Briefkästen ansehen, ob sie gefüllt waren oder nicht (eine »Aura«, irgendein Überbleibsel vom Postboten, eine wimpernleichte Änderung in der Resonanz des Briefkasteninneren, Nachhall des Klappenschlags?); er sah Softeis an, ob es zuviel Milchfett enthalten und ihm daher nicht schmecken würde; er spürte, daß jemand reglos, wahrscheinlich mit angehaltenem Atem und die tintige Dämmerung über dem Türrand absuchenden Augen in der Box am Fenster saß: und daß es Burre war. Er nahm die Nebenkabine, wartete.
»Christian?«
»Ich wollte dich was fragen, Jan. – Kann ich irgendwas für dich machen? Ich hab’ einen Onkel, der kennt Leute.«
»Warum machst du’s nicht für dich selbst? Ich brauch’ keine Hilfe.«
»Du willst keine.«
»Ich kann für mich selber sorgen. – Kommst dir edel vor, was? Warum lachst du über meine Gedichte?«
Pause; aber Christian wollte nicht ausweichen. »Weil sie nicht gut sind. – Glaub’ ich. Ich lach’ nicht drüber.«
Burre schwieg, Papier raschelte, ein Stab Helligkeit schwankte über den Boden. »Ich weiß, daß sie nicht gut sind.«
»Mein Onkel ist Lektor, vielleicht kann er dir helfen.«
»Aber ich hab’ nichts anderes.« Burre knipste die Taschenlampe aus, als draußen Stiefelschritte zu hören waren. Dann war es still, Costa mochte eine Runde drehen. »Ich wär’ gern mit dir befreundet.«
Christian, nur im dünnen Schlafanzug, begann zu frösteln. »Dieser Pfannkuchen … vielleicht könnte man sich irgendwo beschweren?«
»Vielleicht schlag’ ich ihn tot, eines Tages«, sann Burre, »als sein ›Sklave‹ lerne ich ihn besser kennen als er mich, und irgendwann, vielleicht, wenn er schläft … Ist mir egal. Ich hab’ die Schnauze voll, ich hab’s so satt manchmal …« Burre sprach hastig und gepreßt, voller Haß. »Und im Betrieb schuften sie sich die Knochen kaputt, alles für die Planerfüllung, und wenn meine Mutter nach Hause kommt, ist sie so fertig, daß sie vorm Fernseher einschläft …«
»Jan, ich verpfeif ’ dich bestimmt nicht – sei vorsichtig.«
»Ja. Dachte ich mir, daß du das nicht machst. – Jetzt geh, ich möchte noch ein bißchen für mich sein. – Danke.«
Christian fragte nicht, wofür. An einem der nächsten Tage, es stand die »VNP« an – Vorbereitung auf die neue Nutzungsperiode: Panzerketten lagen vor den Hangars wie vertrocknete Häute einer Drachenkolonie –, sah er Burre vor dem Stabsgebäude des Regiments stehen. Er blickte sich hastig um, schien Christian nicht zu entdecken, betrat das Gebäude.
51.
Im Tal der Ahnungslosen
November; stärker als sonst an den Abenden, nach den Diensten, den OPs, begann Richard seinen Körper zu spüren. Arm und Hand schmerzten, auch die Stelle am Oberschenkel, wo man ihm die Hauttransplantate entnommen hatte. Etwas in seinem Innern schien zu verrutschen an diesen kurzen, wächsernen Tagen, die ohne Elan und in flacher Bahn vorüberdrehten, nicht richtig geboren und für ein frühes, regenblasses Sterben bestimmt; er mochte sie nicht, diese Grauhimmel- Epoche (denn waren auch die Tage kurz, die Zeit, zu der sie sich verbanden, war es nicht, und das Jahr schien aus zwei Uhren zu bestehen: einer kleinen für Blüte, Frühling, Sommer – und einer großen mit den langsamen, traumklammen Novemberziffern); er wurde trübselig in dieser Atmosphäre aus Mißgelauntheit und Kopfeinziehen (würden sie je verschwinden, diese braunen und grauen Mäntel mit aufstellbarem Kragen und Taschen, in denen die Arme bis zu den Ellbogen verschwanden, so daß er sichunhöflich vorkam, wenn er einen Bekannten traf und ihm die Hand zum Gruß reichte); und im Gegensatz zu Meno, der Spaziergänge jetzt besonders gern unternahm (Hut, Pfeife, Schal, Schnupfen und Erinnerungen), konnte er auch der Stadt in dieser Zeit nichts abgewinnen, den schlierigen Straßen, katarrhgedämpften Häusern. Ihn bedrückten die Ruinen, Frauenkirche, Schloß, Taschenbergpalais, die verfallende Rampische Gasse, die jedem, der vorüberkam, zu verstehen gaben, daß Dresden nur noch ein Schatten war, zerstört, krank. Auf den riesigen, windüberpfiffenen Brachen der Stadt wucherte Unkraut, in den Neubaugebieten wurden die Wege unkenntlich unter Morast und
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