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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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sprach, ein humoristisch-hemdsärmeliger, am Machen mehr als am Reden interessierter, skrupulösen Alltag gern in die Perspektive eines pionierlagerhaften festlichen Morgen einschwenkender Arbeits-Bulldozer, dessen Schto djelatch?: Was tun? Und Kak tebja sowut?: Wie heißt du (Schwierigkeit oder Feind) von einer sibirischen Staudamm-Großbaustelle übriggeblieben waren, auf der er in »herzerfrischenden! herzerfrischenden!« FDJ-Funktionärszeiten Hand an den Kommunismus gelegt hatte.
    »Immer dasselbe«, klagte Richard draußen, »viel Gerede, und es passiert nichts.« Clarens und er liefen vom Rektorat die Akademiestraße vor. Clarens sprach über Selbstmord. Er war ein international geachteter Selbstmordforscher und sagte manchmal, daß er das Glück gehabt habe, seiner Passion in diesem Land nachgehen zu dürfen, denn nur Österreich-Ungarn biete reichlicher Material. »Ach, ein Wiener Psychiater zu sein!« seufzte Clarens. Die k.u.k. Fälle zeichneten sich durch größeren Einfallsreichtum, eine Neigung zum Skurrilen und Entlegenen aus, während die Deutschen gewissermaßen quantitativ »Schluß machten«, wobei Clarens hinter seinem Hals in die Luft griff und röchelnd die Zunge herausstreckte. Natürlich, auch Gastote mit ihrem friedlichen Gesicht und den kirschzarten Wangen; Spitzen im Mai und zu Weihnachten; natürlich Schlafmittel, vor allem bei Frauen, die Männer bevorzugten in der Regel härtere Methoden. Den Bohrhammer zum Beispiel, mitten ins Herz hinein. Richard erinnerte sich an den Fall: Der Mann, ein VerdienterEisenbahner, war mit steckendem Bohrer in und all seinen Orden auf der Brust in der Nacht nach der Feier seiner Verrentung in die Ambulanz gekommen, hatte wie jeder andere vor der Kanzel der diensthabenden Schwester gewartet und, als er an der Reihe war, »sein Anliegen vorgebracht«. Oder der Meister aus der Ziergärtnerei, der eines Abendbrots eine Schüssel kleingeschnittene Dieffenbachia, angerichtet mit Salatwürze, verspeist und sich anderntags mit ausgepumptem Magen auf der Intensivstation wiedergefunden hatte. Clarens’ Begeisterung schlug in Verdruß um: International schätze man ihn! National dagegen … reichlich Material zwar, aber auch reichlich Hemmnisse und Hürden. Die bekomme er vor allem dann zu spüren, wenn er Ursachenforschung betreiben wolle. Unversehens schwenkte er um: »Hast du noch Kontakt zu Manfred?«
    »Seit einiger Zeit sehen wir uns selten.«
    »Er scheint dir irgend etwas übelzunehmen. Er spricht nicht gut über dich. – Ach, dieses Novemberwetter! Ganz trübsinnig wird man. Und was nützt meinen Patienten ein schwermütiger Psychiater? Übrigens ist Frost angekündigt.«
    Richard antwortete nicht. Ihn beschäftigte der Zwiespalt, in dem er seinen Begleiter sah: schütterer Anschein – und joviale Robustheit bei seinem Fach-Lieblingsthema … Clarens hatte auch andere Lieblingsthemen, schätzte die Bildenden Künste, weniger die Plastik dabei als die Zeichnung, die er »Kammermusik der anschauenden Kunst« nannte, er ging in manchen Ateliers ein und aus, kannte recht gut Menos Chef, kannte auch Nina Schmücke und ihren Kreis. Ein weiteres Lieblingsthema war die Dresdner Stadtgeschichte, weswegen Clarens, der in Blasewitz lebte, oft zu Fuß das Blaue Wunder überquerte, um mit der Standseil- oder Schwebebahn hinaufzufahren zu den Treffen der Urania, den Abenden der Witwe Fiebig im Haus Zu den Meerkatzen.
    »Hat’s geklappt mit dem Durchlauferhitzer?« fragte er, indem er die Arme über Kreuz um den Oberkörper schlang. Als sie zur Rektoratssitzung gegangen waren, hatten sie ihren Atem noch nicht sehen können. Elektrowagen klirrten und klapperten vorüber, Studenten zogen fröstelnd in Richtung Mensa.
    »Nein. Ich kenne einen Ingenieur, der was zurechtgezaubert hat.«
    »Der, mit dem du in Lohmen an deinem Oldtimer bastelst?«
    Richard sah überrascht auf: »Woher weißt du das?«
    »Hab’ neulich den Dietzsch besucht und eine kleine Grafik gekauft. Gut angelegtes Geld, möchte ich meinen.« Clarens erzählte, daß sich bei einigen Malern, die er kenne, in letzter Zeit so etwas wie ein zweiter Markt entwickelt habe, Galeristen aus der Bundesrepublik gingen inzwischen in den Ateliers ein und aus, sähen manches, kauften manches. Und begrüßten ohne Scheu Damen und Herrren, die auch manches sähen und inzwischen auch manches kauften.
    »Was redet denn Manfred über mich?«
    »Ach, nicht gut, nicht gut. Ich dachte, ihr seid befreundet?« Clarens atmete tief

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