Der Turm
Schlamm. Regen … In der Neustadt lagen die Häuser wie verfaulende Schiffe in der sickernden, feinste Poren tränkenden, von Dächern geseihten und zu Tropfmetronomen gemästeten Nässe. Vorwinterschweißausbruch der Fassaden, der kalte Schweiß eines Moribunden, behördlich nicht genehmigt … In der Gemäldegalerie haftete er als fettiger Film an den Wänden, entrückte Giorgiones Venus in unerreichbare Ferne, überzog die fleischfreudigen Rubensszenerien mit Melancholie, gab der Brombeerpastete de Heems etwas Verwelktes, sogar den posaunenbäckigen Schlingelgesichtern der Engel unter der Sixtinischen Madonna. Über den Elbwiesen hingen Nebel. Die Seitenwege in der Akademie waren aufgeweicht, die Springbrunnen abgestellt. Wenn Richard von einer Konsultation kam, sah er zu den Akademiegebäuden an der Fetscherstraße, überlegte, woran ihn die Sandsteinschnecken an den Dächern erinnerten (die Perückenlocken englischer Richter – immer wieder vergaß er es, auch das war ein Ärgernis!), sah zu den Lichtern, die nun auch tagsüber brannten und wie stoffwechselnde Leukozyten in den glasig-dürren, kriechenden Blutgefäßen der Parkbäume auf- oder abtauchten.
Wernstein war an der Charité, kein Ersatz für ihn gekommen.
»Sie fordern immer nur Personal, Personal!« Rektor Scheffler hob die Hände nach Müllers Ausführungen. Freundlich, unretuschiert und in Farbe blickte Gorbatschows rundliches Bauerngesicht von der Stelle, wo vorher Andropow und Tschernenko gehangen hatten, auf die Konferenz. Josta brachte Unterlagen;sechster oder siebter Monat, schätzte Richard nach einem Blick auf ihren Bauch.
»Wir haben keins! Das wissen Sie so gut wie ich. Die Bedarfsplanung –«
Rykenthal fiel ein, der Chef der Kinderklinik, und wiederholte höhnisch das Wort Bedarfsplanung. Die Kinderklinik war baufällig, das Dach undicht; im Obergeschoß hatten die Wasserflecken einander inzwischen bei den amöbenhaften Fingerfortsätzen gefaßt; der Schwarze Schimmel sproß wie Bartwuchs in den baupolizeilich gesperrten Zimmern. Natürlich verlangte Rykenthal, der stämmige Mann mit der Aura eines Nilpferds, mit Zauberkünstlerfliege und schmetterlingsblauen Pädiateraugen, daß diese Mißstände (»ich weiß nicht, Kollegen, zum wievielten Mal ich das vorbringen muß«) endlich abgestellt würden, worauf Reucker unruhig wurde und auf die seiner Meinung nach dringlicheren Probleme in der Nephrologie hinwies; Verwaltungschef Heinsloe war gefragt, und wie so oft blieb ihm nur, bedauernd die Arme zu breiten: »Die Mittel, liebe Kollegen, die fehlenden Mittel! Und woher Baukapazitäten nehmen!« Material, er könne nicht hexen!
»Seit über fünf Jahren steht der Antrag auf einen Hand-OP«, unterbrach ihn Richard wütend, als er bemerkte, daß Josta wohlgefällige Blicke folgten. »Es ist doch nicht möglich, daß es in ganz Dresden keine Mittel gibt, um diese kleine Sache zu bewerkstelligen!«
»Kollege Hoffmann, Ihre privaten Ambitionen in Ehren, aber ich darf doch daran erinnern, daß die Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde seit dreizehn Jahren den Antrag auf einen neuen OP –« »Private Ambitionen nennen Sie das?«
»Die Hand-OPs können Sie doch wie bisher in der Ambulanz machen, Herr Hoffmann; aber es ist doch ein Unding, daß meine Patienten ihre Dialyse auf dem Stationsgang bekommen müssen, weil der längst versprochene Anbau –«
»Ich bitte, meine Herren! Unsere Mittel sind begrenzt. Überlegen wir, wie wir sie am sinnvollsten einsetzen. Am dringlichsten erscheint mir die Sanierung der Kinderklinik. Mein Enkel hat neulich dort gelegen, im Obergeschoß tropft es von der Decke, die Schwestern stellen Schüsseln unter …«
Clarens saß bescheiden in einer Ecke, strich sich den Bart, sagte nichts und wurde auch nichts gefragt; ein schmächtiger Mann, dem man, dachte Richard, unwillkürlich etwas Gutes tun wollte, eine Apfelsine schenken beispielsweise: weniger aus Freundlichkeit oder Aufmerksamkeit als aus einer Art höherer Scham, und um von ihm geachtet zu werden – Clarens saß, als würde er die Sünden zählen, konnte nicht kämpfen, verschwand beinahe neben den breitschultrigen, von ihrer Bedeutung und derjenigen ihrer Anliegen unzweifelhaft überzeugten Vertretern der operierenden Fachgebiete. Bei Leusers Urologenwitzen schien Clarens körperlich zu leiden, Hände und Ohren nahmen ein entrüstetes Himmelgrau an, das in Kunsthonigblässe überging, wenn der hauptamtliche Parteisekretär der Medizinischen Akademie
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