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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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und, wie es Richard schien, genießerisch ein. Er würde nicht sagen, was es war, das »nicht gut« war. Verleumdete er Weniger? Was würde passieren, wenn man Clarens bei der Krawatte nähme und schüttelte … was käme zum Vorschein, eine Fratze, ein Kobold mit giftverzerrten Zügen? Wenn man nur hinter die Masken sehen könnte, hinabsteigen in die Bergwerke im Inneren der Menschen.
    »Viel taubes Gestein«, murmelte Richard.
    »Und eine Stecknadel aus Gold«, murmelte Clarens, faßte Richard am Arm und wies auf die Ebereschen entlang der Akademiestraße, die sich vor ihren Augen mit Reif überzogen.
    »Diese Sitzung hat mich doch ziemlich abgespannt«, sagte Clarens. »Schwierigkeiten, Neid, laufende Psychosen … Leusers Koprolalie, und der Hauptamtliche ein Blindissimus realitensis totalis.« Der Psychiater winkte ab. In solchen Situationen gehe er gern in die Wäscherei. Irgendein Kittel zum Abholen finde sich immer, der Dampf erinnere ihn an seine Kindheit, und das Wirken und Weben der Bügeleisen sei so beruhigend. Gott, die Selbstmörder, die Irren, darunter Parteisekretäre, und andere Psychiater!
    Richard ging auf Station. Schwester Lieselotte wartete mit dem Visitenwagen. »Ihr Sohn ist gekommen.«
    »Christian? Was ist passiert?« – Schrecken des Unfallchirurgen, der in Knochenbrüchen, Aufpralltraumen, Verkehrsunfällen und Verletzungen an Maschinen denkt.
    »Na, ich bin’s bloß«, Robert kam aus dem Schwesternzimmer,mit dem Ausdruck sanfter, seine Jahre, dachte Richard, noch übersteigender Nachsicht.
    »Kaffee?« Schwester Lieselotte zog ihren forschenden Blick von Richards Gesicht ab, das allmählich wieder Farbe gewann; er nickte, war noch verwirrt, umarmte Robert scheu. Patienten am anderen Ende des Flurs, in Bademänteln, kleinschrittig Ständer mit Infusionsflaschen schiebend, blieben stehen.
    »Die Schwestern sagen, du machst Visite; kann ich mitkommen? Kittel hab’ ich«, Robert hielt am Zeigefinger einen der waschbrüchigen, hinten schließbaren Präpariersaalkittel hoch, die für vergeßliche Studenten auf Station vorrätig lagen.
    »Ich denke, du bist im Internat? – Hast du keine Schule?«
    »Vorbei. Bin mit dem Bus gekommen, dachte mir: Guckst mal, was der Richard so macht.«
    Wie damals, als Josta in Friedrichstadt lag und Daniel sie bei ihrem Vornamen nannte, das muß inzwischen so üblich sein, dachte Richard. Meinetwegen. Schwester Lieselotte brachte seine Mug mit Kaffee, für Robert ein Stethoskop, Reflexhammer und Winkelmesser.
    Im ersten Zimmer lagen acht Patienten. Krankengeruch schlug den Visitierenden entgegen, ein Geruch, den Richard seit seiner Studentenzeit häufiger eingeatmet hatte als das, was man als »frische Luft« bezeichnete; Krankengeruch: diese Mischung aus Urin, Faeces, Eiter, Blut, Medikamenten und seröser Flüssigkeit in den Wundverbänden und Drainflaschen, der Geruch nach kaltschweißiger, unrasierter Haut (sie waren in einem Männerzimmer, bei den Frauen würde es mehr nach Urin, titriert mit den süßlichen und kamillelastigen Bemühungen einer stiefkinddemütigen Kosmetikindustrie riechen), nach Franzbranntwein, Bakteriennährböden, Melissengeist und Essig (das Staubwasser, in das die Schwesternschülerinnen und Hilfspfleger ihre Lappen tunkten, um Bettgestelle, Lichtleisten, Nachttische zu reinigen); der Geruch von PVC, mit Wofasept gewischt; nach etwas Uraltem, das in den Wänden der Krankenzimmer zu brüten schien, in der abwaschbaren weißen Ölfarbe mit dem olivgrünen Streifen in Brusthöhe, dort, wo man die Arme bei Verhaftungen bindet, wo die Lungenbäume sich verzweigen, wo das Herz sitzt. Sieben der acht Patienten hatten sich in ihren Bettenaufzurichten versucht und waren in dieser Habachtstellung (so nannten sie die Schwestern) verblieben, eine Hand am Strick des Bettgalgens, der aus rostigem, zahngelb lackiertem Stahl bestand und sich unter der Last bog; der achte Patient lag im Gipsbett, Arme und Rumpf eingemauert im weißen Panzer, der über Wunden viereckig gefenstert war, um Drains (fingerdicke, schusterahlenförmig gebogene, perforierte Kunststoffrohre) die Ableitung des Wundsekrets zu ermöglichen. Das linke Bein, ebenfalls gegipst, hing über einen ins Fersenbein gebohrten Kirschner-Draht mit Bügel schräg nach oben, belastet mit Eisenscheiben, die über Rolle und Schnur nach unten zogen und deren ehemals weißer Lack fast vollständig abgeblättert war. Der Kopf, aus dem der Schwester und Richard ein ängstlich-stilles Augenpaar

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