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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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entgegenstarrte, steckte in einer Crutchfield-Klammer, die, verankert im Schädelknochen oberhalb der Ohren, die Halswirbelsäule, ebenfalls über Zug mit Gewichten, dehnte. Der Augenoptiker, zweites Bett links, wiederholte sofort seinen Heiratsantrag an Schwester Lieselotte und meinte, bei ihm würde es ihr nie an Brillen fehlen, außerdem sei es sinnlos, auf den armen Kerl mit dem Gehirnreifen Geld und Zeit zu verschwenden, der gehe doch, lachte er mit dem derben Humor vieler Patienten, eh übern Jordan; dagegen sei sein Bein: wann? gesund? und bestellte bei Schwester Lieselotte, die ihm ungerührt Blicke voller Körbe zuwarf, einen Vorschlaghammer, mit dem er die ewige Blasmusik des Mitarbeiters der fünften Himmelsrichtung (zweites Bett rechts, ein fischfiletblasser Vikar mit Unterschenkelbruch, den er sich beim Abmontieren zweier Wanzen: aus dem Beichtstuhl und aus der Dornenkrone des Erlösers, zugezogen hatte) sowie die ewigen Revolutionshymnen jenes Genossen Abschnittsbevollmächtigten (drittes Bett rechts, Mittelgesichtsbruch, eben saß er auf dem Topf hinter einer Spanischen Wand, auf dem Nachtschränkchen lag Maykarl neben Marxkarl) endlich zerschmettern könne, der Ideologenkrieg sei ja nicht zum Aushalten.
    »Na, junger Mann, frisch von der Uni?« Erstes Bett rechts, ein Professor für Slawische Linguistik, Emigrant vor den Nazis aus den Sudeten, Emigrant vor den Tschechen aus den Sudeten, unter der weißen, aus dem Fell von Rosettenmeerschweinchen gearbeiteten Rheumadecke mühten sich zerhackte Arme vor;Säbelhiebverletzungen (alte Eifersucht, alter, hiebwaffensammelnder Rivale).
    »Mein Sohn! Er ist einfach so von der Schule in Waldbrunn zu uns auf Station gekommen, wollte sehen, was ich so mache.«
    »Mächtig stolz, unser Dokter! Na, früh übt sich der Zeisig«, rief der Binnenschiff-Maschinist im vierten Bett rechts, schlug einen Toupet-Katalog zu, winkte mit zwei zertrümmerten Fingern; er war zweiundzwanzig Jahre alt und trug sein Haar immer noch lang, obwohl ein beträchtlicher Teil davon in den Rotor seiner Maschine geraten war und ein handtellergroßes Stück Kopfhaut abgerissen hatte. Das Licht ging aus.
    »Gute Nacht.« Drittes Bett links, ein Gabelstaplerfahrer aus der »Kofa«, der Dresdner Konservenfabrik; Schädel-Hirn-Trauma nach Sturz in Trunkenheit von der Staumauer des Waldbrunner Kaltwassers. Im Stationszimmer saß der Spätdienst im Dunkeln, eine Schwester zündete Kerzen an; im Flammenlicht wirkte ihr Gesicht ruhig; die Gegenstände im Helligkeitskreis bekamen etwas weihnachtlich Unwirkliches, Entrücktes. Schwester Lieselotte war mit nach vorn geeilt, schloß den Apothekenschrank auf, wo sie einige Taschenlampen nebst Ersatzbatterien verwahrte. Richard dachte: die ITS, dann kam schon Kohler durch die Stationstür gerannt, hinter ihm Dreyssiger, Lichtbündel tasteten über die Wände der Nord I. Dreyssiger rief: »Der OP, sie stehen unten, nichts geht mehr. Die Herz-Lungen-Maschine ist ausgefallen.«
    Das Telefon funktionierte noch. Richard rief die Intensivstation an, niemand nahm ab. »Was ist mit den Anästhesisten, können sie beatmen?« fragte er Dreyssiger über die Schulter.
    »Nein.« Einfach nur »nein«; trocken, tonlos hatte es Kohler vorgebracht. »Wenn das Notstromaggregat nicht anspringt«
    »– springt es an«
    »– müssen sie per Beutel beatmen«
    »– wieso springt es nicht an«
    »Wie im Krieg«, sagte eine der Schwestern angstvoll, die fast siebzig Jahre alte Gerda.
    »Afrika.«
    »Und wie sieht’s im OP aus?«
    »Afrika, sag’ ich doch.«
    »– es springt eben nicht an«
    »Bananen, Dschungel«
    Im Stationszimmer roch es nach Eukalyptusöl, Kohler hatte den Apothekenkorb vom Tisch gestoßen.
    »– eher Rußland. Rußland, also«
    »Afrika.«
    »Halten Sie doch mal die Klappe!«
    »– oder hören Sie was? Es springt nicht an.«
    »Es tritt der Notfallplan in Kraft.«
    »Komisch, daß das Telefon noch geht.«
    »Läuft über Relaisstationen, Niedervoltage. Da kann rings alles tot sein, und Sie kriegen immer noch ein Freizeichen«, sagte Dreyssiger.
    »Afrika. Zentraler Kongo.«
    »Wir müssen auf die ITS«, sagte Richard. »Schwester Lieselotte, rufen Sie bitte alle verfügbaren Kräfte rein. Robert, du kommst mit uns, wir können jetzt jede Hand gebrauchen.«
    Sie rannten zur ITS. Lichtzylinder blendeten auf, stanzten Essenwagen, Schwesternbeine, verstörte Gesichter aus dem Tiefseedunkel der Klinik, irgendwo fiel eine Bettpfanne scheppernd zu Boden.

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