Der Turm
Judith Schevola war kein bißchen verlegen. Jochen Londoner las sie mit bedrückter Stimme vor: »Als du hast beschlossen zu sain ä Pferd – zieh!«
»Gehen wir spazieren!« schlug Irmtraud Londoner vor.
»Was hab’ ich falsch gemacht?« flüsterte Schevola Meno im Flur zu.
»In alte Wunden gestoßen«, flüsterte er zurück.
»Wie dumm von mir, wie taktlos«, sagte sie.
»Kindchen«, Irmtraud Londoner zupfte sie am Arm, »das konnten Sie nicht wissen. Lassen Sie sich mal keine schwarzen Haare wachsen. Wenn Sie mal zur Familie gehören wollen, gewöhnen Sie sich besser rechtzeitig an solche Umschwünge. We are all very labil. Isn’t it so, my son?«
»It is so, my Sonne«, bestätigte Philipp, half seiner Mutter in den Mantel.
Draußen versuchte Jochen Londoner von der Szene abzulenken; er ging auf das Buch ein, lobte die atmosphärische Dichte und die Gestalt des Vaters, wobei er das »you don’t have to sülz, if you want to say sammsink ernsthaftly«, das bei ihm über dem Schreibtisch hing, auf Schevolas Roman anwendete – Meno erinnerte sich an Besprechungen, die Londoner für die »Neue Deutsche Literatur«, für das »Neue Deutschland« verfaßte, und wo er sich in rauschenden Floskeln und grandiosen Windmüllereien erging, ohne an den Büchern mehr als nur genippt zu haben; Schevola schien zu spüren, daß sein Lob aufrichtig gemeint war, denn sie wehrte es mit einer Reaktion ab, die Meno von manchen Autoren kannte (es waren nicht die schlechtesten): Sie machte auf Mängel aufmerksam, wiegelte ab, indem sie Handlungsverläufe, die ihr nicht gelungen schienen, eher ans Licht (in Ostrom funktionierte die Straßenbeleuchtung) zerrte als nur ansprach, um jeden Anschein von Unbescheidenheit zu vermeiden. Was Meno denn als Lektor zu diesem Buch sage, erkundigte sich Londoner vorsichtig. – Er könne im Grunde nichts dazu sagen, da er das Buch, zumindest in gedruckter Form, nicht kenne: Meno tat, als wäre es überaus schwierig, Feuer an den festgestopften Tabak seiner Pfeife zu legen. – Ob er es denn nicht erhalten habe? Schevola war erschrocken. Sie habe doch veranlaßt, daß ihm ein Exemplar zugeschickt werde!
»Gute Bücher«, Londoner schwenkte ein Einkaufsnetz und lieh Meno Streichhölzer, »lesen wir mit Sicherheit.« Er bedauere, daß es hierzulande nicht habe erscheinen können. Wenn es ihr ein Trost, eine Aufmunterung sei: Auch er wisse, wie Schweigepflaster schmeckten, sechs Jahre habe er auf die Druckgenehmigung seines wohl populärsten Werks, der »Kleinen Kritik der Seife«, warten müssen. Ob Meno (»by the way«) wisse, daß UlrichRohde ihm einen Karton dieses Waschguts habe zukommen lassen nach Erscheinen? Nach einem Vortrag bei Meister Arbogast, über die Sternwissenschaft im Alten Orient. »Wissen Sie«, und Londoner hieb sich fröhlich mit der freien Linken gegen beide Brustseiten, »hier die Orden – und hier die Parteistrafen, so ist das nun mal; glauben Sie nicht, daß Leute wie Barsano oder selbst unsere Friedel Sinner-Priest ohne solche Watschen aus Liebe ihre Arbeit tun können.«
Meno wunderte sich über Londoners Rede. Einige Aussagen, die er aus Schevolas Buch im Gedächtnis behalten hatte, waren stark parteikritisch, manche sogar offen aggressiv gewesen … Da war sie wieder, die Schizophrenie, die er auch von Kurt kannte; wenn sie denn überhaupt über derlei Angelegenheiten sprachen: Die Partei strafte, aber die Bestraften fielen auf die Knie und ließen auf die Große Mutter nichts kommen. Noch angesichts der Erschießungskommandos hatten Verurteilte »Es lebe Stalin, es lebe die Partei der Bolschewiki, es lebe die Revolution!« gerufen. Meno erinnerte sich, was für ein Schock es für ihn gewesen war, als Irmtraud, die längst nicht mehr arbeitete, in einer beiläufigen Unterhaltung von ihrer früheren Arbeitsstelle gesprochen hatte: Sie war Zensorin für »Bücher philosophischen Inhalts« gewesen; selbst Philipps Dissertation hatte sie wegen »Lesart-Abweichungen« zurückgewiesen. Es gab, so nannte es Philipp, »die kalte Neugier« bei den beiden, ob ihre Kinder »es schaffen« würden, und gleichzeitig gab es Wohlwollen gegenüber ihren Träumen: »Wir helfen, aber kämpfen müßt ihr allein.« Und nun lobten sie beide ein Buch, das Irmtraud abgelehnt und Jochen Londoner, hätte er offiziell sprechen müssen, als »ideologisch unklar«, vielleicht sogar »schädlich« eingestuft haben würde.
»Gerüchte aber schwirren, / Die Wahrheit wird verschwiegen. / Die
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