Der Turm
denn danach änderte er seine »Taktik«, wie er sagte, den »Empfangsbahnhof«: Irmtraud begrüßte Meno seitdem, »sei zu Hause«, und nannte ihn »Menodear« oder »my dear«, was er lange für ein merkwürdiges, saxonisch geweichtes Kosewort hielt, bis er es in der Anrede eines ihrer Briefe las und begriff, daß sie Englisch sprach.
Aber diese Fledermausmütze auf dem Kleiderständer kannte er, lauschte ins Wohnzimmer statt auf Irmtrauds Lob- und Preisworte, und da er es hören wollte, ließ es auch nicht lange auf sich warten, Judith Schevolas sandiges Lachen. Philipp renommierte, auch das hörte Meno, den Irmtraud nun allein ließ, stumm und verschwörerisch auf die Treppe zur Küche weisend, die sich im Souterrain befand. Kurze, herzliche Begrüßung, eine anheimstellende Geste, dann konnte der Gast, wenn er ein Freund des Hauses war, bis zum offiziellen Teil der Einladung (deren Beginn ein Essensgong oder ein Glöckchen vorschlug, wie es im Fernseh-»Professorenkollegium«, in dem Londoner Mitglied war, der Vorsitzende schwang) noch eine Weile tun und lassen, was er wollte: sich in den Ohrensessel im Wohnzimmer setzen und in einer der ausliegenden Zeitschriften schmökern (»Literaturnaja gaseta« und »Times Literary Supplement« waren darunter), in den Büchern blättern oder, war man zu zweit, eine Partie Eishockey am Automaten spielen, der in einer Souterrainnische stand; eine Packung dafür notwendiger Zehnpfennigstücke lag immer bereit; warf man einen Groschen ein, konnte man über ein Rad die roten oder blauen Bleifiguren mit ihren von der Stahlkugel verzogenen Schlägern drehen. Man konnte auch wieder gehen, so wie es Eschschloraque einmal getan hatte: Tief in einer Bücherwand auf der Stiege nach oben, zum Londonerschen Heiligtum (»the haunted chamber« stand am Arbeitszimmer in Schreibschrift auf getöpfertem Oval), hatte den Dramatiker eine Szene gepackt, er war mit glasigem Blick, armerudernd (Meno hatte ihm rasch einen Stift in die Hand gedrückt) zum Telefontischchen gedriftet, wo er ohne Erfolg und in zunehmender Verzweiflung nach einem Stück Papier fahndete (er fand keins, bedruckte Seiten gab es im Haus Londoner zu Millionen; leere verwahrte der Alte in »haunted chamber« und wachte streng über die Verteilung: Nichts Handschriftliches im Hause herumliegenlassen, keine Adressen, keine mißverständlichen Notizen!: verinnerlichte Maxime aus der Zeit im Untergrund), bis Meno, der sich Zettel einsteckte, wenn er zu Londoner ging, Eschschloraque einen gab – geistesabwesend hatte der Marschall des Maßes den Telefonhörer abgenommen, Jamben gerollt und mit dem Hörer ein imaginäres Publikum traktiert; in diesem Moment war Londoner die Treppe hinuntergestiegen, auch er glasigen und inspirierten Blicks, auch er in handgreiflichen Ballungen von Wort, Gedanke, Schlußfolgerung, war zum Telefon getappt, wo er von Eschschloraque den Stift statt des Hörers bekam, den er nickend, mit heftigem Blick, fixierte und in erhobener Hand schüttelnd weitertrug, während Eschschloraque verständnislos den Telefonhörer anstarrte, bevor er grußlos und in geliehenen Pantoffeln das Haus verließ.
Man sprach, worüber man im Haus Londoner oft sprach: über die Geschichte der Arbeiterklasse, Ökonomie, aus gegebenem Anlaß über die Geschichte des Weihnachtsbratens, über Daten und Ereignisse in der Geschichte der Kommunistischen Partei. Judith Schevola saß amüsiert neben Jochen Londoner, der im Schaukelstuhl so in Erzählerfahrt geraten war, daß er immer wieder einen seiner Schottenpantoffeln verlor, den Philipp dann wieder an den Fuß paßte, wobei Philipp seinen Vater mit dem auch von Hanna gebrauchten Spitznamen »Seppel« ansprach (Irmtraud wurde von Mann und Kindern »Traudel« genannt). Jochen Londoner hätte es sicherlich vorgezogen, nicht wiederholt an die Sterblichkeit der Euphorie erinnert zu werden (mochte der Pantoffel doch segeln, wohin er wollte!); an Judith Schevola gab es unbekannte Ohren, in denen noch nie der Londoner-Trichter, jedenfalls nicht der weltenfreudige des Alten, gesteckt hatte. Ein Glas Portwein, schaukelnd mitten in einer ausgiebigen Bohrkernanalyse der »Hauptaufgabe« abgefüllt und ebenso kommentarlos wie ohne Blickkontakt zugereicht, hatte zu Menos Begrüßung genügt; Meno hatte vor Verblüffung über Schevolas Anwesenheit, aus still ansteigendem Mißmut, wie vergnügt und elegant Philipp sich im Glanz des Hauses sonnte, dabei aufgeregt umhersprang wie ein Schuljunge,
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