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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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das Glas schon in sich hineingegossen und hockte nun wie ein Waldkauz, geleimt an die schweren Kreise des Weins, im Ohrensessel, demalten Historiker gegenüber. Jetzt flog das »Londoner-Sondoner«-Sprech über drei Punkte durch den Raum und gab Meno die Vorstellung, am Rand blitzender Elektrizität zu sitzen; Irmtraud fragte, wann aufgetragen werden solle: »When känn I servier the Haeschen, my dear?«, und »Seppel«, stark in der Schilderung der Hunger- und Raubtierzustände in Manchesters Baumwollfabriken begriffen, breitete fragend die Arme, um Demokratie anzudeuten – die Philipp anstelle der prustenden Judith Schevola und Menos aufgriff, der ihm schlechtes Gewissen unterstellte und vergnatzt schwieg: »We love you dermaßen, Traudel, you are ä Heldin, denn I sink, there’s not matsch fun in de Kittschen?« »You really don’t have tomatoes on your eyes«, bestätigte Irmtraud, »bleib sitzen, my dear«, (das galt Judith Schevola), »de potätohs are alle geschält bei now, änd I sink, de Rosenkohl is quite färdsch.«
    »Okäh«, entschied der pater familias, »thänn I sink, we take sammsink to Knabbern in de Zwischentime.«
    Ein Anruf vom oberen Telefon, und aus dem Gagarinweg wären die Wagen des Mitschurin-Komplexes mit einem Menü gekommen. Irmtraud wollte es nicht, obwohl Jochen Londoner es ihr schon mehrfach angeboten hatte, wie Meno von Philipp wußte, der Judith Schevola mittlerweile ekelhafte Süßaugen zuwarf. Wie damals, als sie zu Eschschloraque unterwegs gewesen waren, hätte Meno sich gern nach Marisa erkundigt; vielleicht feierte sie mit chilenischen Exilgenossen oder spielte in Philipps Zimmer gegenüber der Baumwollspinnerei mit Judith Schevolas Messer. Meno beobachtete Philipp: Wußte dieser Mensch überhaupt, was er wollte? Du wirst doch nicht etwa eifersüchtig sein! Er wehrte den Gedanken mit einer heftigen Geste ab, die die Hand mit dem Herrenring am Zeigefinger in Bewegung setzte, um Meno eine Schale mit Salzstangen anzubieten; ohne den Redefluß zu unterbrechen oder auf Menos Reaktion einzugehen (vielleicht nahm Jochen Londoner sie für Zustimmung), setzte der Gelehrte die Manchesterrede fort. Philipp hatte eine Gorbatschow-Plakette vor sich auf den Tisch gelegt, Kopf mit Muttermal auf rotem Grund; das Blechstück, hinten mit einer Anstecknadel versehen, stammte ironischerweise aus dem Westen; Philipp hatte es aus Berlin mitgebracht, wo diese »sweetliddel provocations« (so Jochen Londoner, der sie eingehend gemustert hatte, die Qualität der Anstecknadel-Verlötung lobend) seit einigen Monaten kursierten.
    Philipp, das Heldenkind. Der die Partei rein- und die Ideale hochzuhalten versuchte, unter deren Sternen seine Eltern gekämpft und eins (Meno konnte sich die beiden nicht getrennt vorstellen) der schrecklichen Schicksale dieses Jahrhunderts durchlitten hatten: Irmtrauds und Jochens sämtliche Verwandte in den Vernichtungslagern der Nazis ermordet, sie selbst auf abenteuerlichen Wegen nach England entkommen (»mit nothing in de pockets und Hunger, my dear, immer Hunger«), wo er für die British Library und sie als Putzfrau im Guy’s Hospital gearbeitet hatte, bevor sie als »enemy aliens« inhaftiert worden waren. Philipp, der korrupte Funktionäre angriff und an den Sozialismus wie an etwas Heiliges glaubte – nie wäre er bereit gewesen, in Diskussionen über eine bestimmte Grenze hinauszugehen, etwa das Ganze in Frage zu stellen, wie Richard es tat (und Anne? war sie nicht ebenso erzogen worden wie Philipp und er, Meno Rohde, Träger eines stolzen Namens in der kommunistischen Hierarchie … jetzt war sie wahrscheinlich in der Kirche, um Magenstock predigen zu hören und das Krippenspiel zu sehen); nie zweifelte Philipp daran, daß dem Sozialismus die bessere, die hoffnungsfrohere Zukunft gehörte. Alles für das Wohl des Volkes … Philipp spendete einen beträchtlichen Teil seines Gehalts für ein Arbeiter-Feierabendheim in Leipzig; während des Studiums hatte er an der Baikal-Amur-Magistrale mitgearbeitet. Und seine Wissenschaft? Sie diente dem Volk, für das der Sozialismus gedacht und geplant worden war; Meno war überzeugt, daß Philipp seine Wissenschaft, seine Professur als Beitrag zur Stärkung des Sozialismus ansah und sie ohne Zögern dreingegeben hätte, wäre das für die Verteidigung der »gerechten Sache« (so sprach man hier gern von der Diktatur des Proletariats) notwendig erschienen.
    Der Pfiff der Schwarzen Mathilde war zu hören, worauf Jochen

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