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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Londoner, indem er einen Schluck Sherry nahm, seine Ausführungen unterbrach und mit einem gedehnten »… by the way …« Meno aufmerken ließ; meist kam nach solchem Übrigens ein wichtiger, Alltagsdinge betreffender Hinweis; so auch diesmal:Ihm sei aufgefallen, daß sich in jüngster Zeit die Energiesparsendungen im Fernsehen der Republik wieder häuften, Meno »und auch Sie, meine Liebe« (Judith Schevola schrak aus der Betrachtung der vielen Originalgrafiken an den Wänden zwischen den Buchreihen) seien klug beraten, rechtzeitig Kohlen nachzubestellen; notfalls könne er, wenn es gewünscht werde, behilflich sein. Und auch sonst, im übrigen …? Dies Angebot als »liddel Abschlag« auf die noch folgende Bescherung. Meno griff zu, er hatte es sich schon vor dem Aufbruch zu Londoners überlegt, und bat für Christian; ob Jochen da etwas tun könne, Versetzung in eine andere Einheit zum Beispiel, ein Stabsschreiberposten; Londoner wehrte ab: Das sei das Militär, da könne er nichts tun, gar nichts; es genüge ihm schon, was Philipp auf Hiddensee angestellt habe mit dieser idiotischen Gegenüberstellung von Kleinbürgern und Bildungsbürgern, der Genosse da habe Regenpfeifer gespielt und gesungen; gefährlich, meinte Jochen Londoner, aber wohl zu regeln. Ob das Telefon, übrigens, wieder funktioniere. Aufhebung des Privateigentums, nannte Philipp die bedächtige, von leichtem Ächzen begleitete Bewegung, mit der sein Vater aus dem Schaukelstuhl aufstand; der Ausdruck konzentrierten Lauschens kehrte zurück, als Londoner sich mit Zeige- und Mittelfinger ans Kinn griff. Irmtraud hob den Schlegel des Essensgongs und sagte: »The Gong is gonging.«
    Meno konnte beobachten, wie Londoner zum Telefon schlurfte, Augenblicke zögerte, bevor er abnahm und mit angestrengtem Gesicht die Muschel ans Ohr preßte: »Ach, kommen Sie doch mal bei Gelegenheit vorbei. Ja, ich kriege keine Verbindung, wenn ich wähle. Wäre doch schade um die Gespräche, oder nicht? Wenn ich keine Telefonate führen kann, können Sie nichts aufzeichnen, und stehen Sie nicht auch im Plan? Schönes Fest und Wiederhören.« Er blieb stehen, solange Irmtraud den Braten auftrug. »Let’s have ä liddel Schmaussolos!« lud er auf Londonerhellenisch ein.
    Nach dem Essen Bescherung: Meno beobachtete Schevola, die heute weniger als sonst sprach, zurückhaltend auch bei den verstohlenen Komplimenten des Alten blieb; sie waren nicht anzüglich gemeint; Londoner sprach zwar gern und hörte sich auch gern zu (»mit kritt’scher Liebe, es iss ja nich so, daß ichnich durchseh’«), wußte aber, daß Monologe zwar fesseln, doch nicht lange. Schevola beobachtete Philipp und den Alten, ließ ihren Forscherblick beim Essen über Irmtrauds Perlencollier, das Meißner Porzellan, die monogrammierten Stoffservietten (all das vag beleuchtet vom ersten, zu früh entzündeten Licht der Chanukkiah) wandern; Meno vermutete, daß Judith Schevola ebenso wie er gespannt war auf den Moment, die »Charakterologie der Augenblicke«, aus dem dieser Moment bestehen würde: die Übersetzung des alten Gelehrten vom bekennenden Revolutionär (der seiner Frau und Judith die saftigsten Bratenstücke vorlegte) in den Eigentumsbürger. Würde der Liebermann über dem Kanapee weniger ingrimmig lächeln, würden Schimmer von Nachsichtigkeit, von Müdigkeit sogar, von Schattenahnung über das wach gespannte, witzdurchfunkelte, unerbittliche Antlitz des Malers spielen? – Räuspern, Verlegenheit, Scheu. Jochen Londoner stand vor dem Baum und bat die Familie (die schweren Augenlider drückten das Wort »Gäste« beiseite) zu sich, griff suchend über den Tweed seines Jacketts, fand eine Brille und verteilte unter Beschwichtigungen, Stirnrunzeln und »Also – für dich«, »Nun – für Sie«, Briefkuverts, die, wie Meno wußte, Anweisungen über bedeutende Summen enthielten. »Nein, nein«, wehrte Londoner mit erhobenen Händen Widerspruch ab, der noch gar nicht entstanden war, »die warmen Hände, Kinder. Nicht mit kalten Händen sollst du schenken / die Jugend braucht solch’ Flügel, um zu fliegen. Nein, nein, take it, forget it, kauft euch sammsink. Ihr wißt, daß ihr uns nichts schenken sollt. Wir wollen das nicht! Kein Wort mehr. Aber von Ihnen«, er nickte Irmtraud zu und wandte sich an Judith Schevola, »wünschen wir uns etwas.« Irmtraud öffnete Schevolas Roman »Die Tiefe dieser Jahre« mit dem Meno wohlvertrauten Signet des Munderlohschen Verlags und bat um eine Widmung.

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