Der Turm
Herzen sich verwirren – / So hoch sind wir gestiegen!« Judith Schevola brach ab; einen Augenblick, so schien es Meno, setzte Londoner an, eine weitere Strophe zu zitieren, schwieg aber. Philipp und Irmtraud gingen vor ihnen, Philipp gestikulierend.
»Darf ich Sie etwas fragen? – Ernsthaftly.«
»Nur zu, meine Liebe, wenn ich’s beantworten kann.«
»Philipp wirft mir oft vor, ich würde mich für die Probleme indiesem Land nicht interessieren – ich meine die ökonomischen. Das stimmt nicht. Ich halte ja auch meine Augen offen. Glauben Sie –«
»Lennin«, unterbrach Londoner mit einer weiten Geste seiner Rechten; er schien ein Stück von Schevola abzurücken, »Lennin hat, sobald die Kriege zu Ende waren, eine kapitalistische Wirtschaft in Sowjetrußland eingeführt; er hat immer davon gesprochen: Der Kapitalismus ist unser Feind, aber er ist auch unser Lehrmeister.« Er beobachtete sie mißtrauisch, vielleicht glaubte er, sich zu weit vorgewagt zu haben: »Und das sagt Lennin – unser aller Lehrmeister!«
Meno mußte über dieses »Lennin« schmunzeln; es klang wie Lennon mit i; Jochen Londoner war ein bekennender Fan der Beatles.
»Nur soviel noch, meine Liebe, heut’ ist Weihnachten: Die Lenninschen Lehren von der Notwendigkeit der Basisdemokratie. Lennin, an der Spitze der Oktoberrevolution, zehn Tage, die die Welt veränderten – und wir sind ein Teil der Sowjetunion, allein wären wir überhaupt nicht lebensfähig. Die Schlußfolgerungen, auch in Hinsicht auf aktuelle Politik, überlasse ich Ihnen.«
Man gruppierte sich um; Irmtraud und Jochen Londoner fielen zurück. Sie hielten einander bei den Händen, sahen auf die Straße und schwiegen. Philipp hätte seinem Vater eine solche Frage wahrscheinlich gar nicht stellen dürfen; Probleme dieser Art wurden in der Nomenklatura nach Menos Erfahrung nicht besprochen, zumindest nicht zwischen den Generationen. Keine Adressen im Haus außerhalb des Panzerschranks, keine Zweifel, die substantiell zu werden drohten, in den eigenen vier Wänden, kein Abweichlertum, unbedingte Treue zur Partei. Meno erinnerte sich an Londoners subtile Tücke, den Alten vom Berge von Philipp einladen zu lassen; welche Demütigung – und was für eine sonderbare Reaktion des Alten: Er war wütend gewesen, daß die Londoners ihn einluden; er war der Meinung, sie hätten auf diese Weise seine Einsamkeit bloßgestellt, um so mehr, als sie so groß sein mußte, »daß ich diese Einladung noch nicht einmal freundlich abzulehnen in der Lage war!« »Ei-gent-lich eine Stellvertreter-Einladung«, so hatte er es bezeichnet: »Wie man früher Lakaien oder die Kinder der Hofbediensteten freundlichins Schloß zum Gabentisch geladen hat, von dem sie ein paar Brosamen mitnehmen durften«.
»Wollen Sie denn etwa mitgehen?« fragte Meno Judith Schevola leise. Philipp war in voller Fahrt, Meno kannte das schon, auch Hanna hatte diese ekstatischen Zustände gehabt; etwas, das ihm fremd war, das er aber bewundert und wofür er Hanna geliebt hatte. Aus Philipps Mund klangen Worte wie »Weltrevolution«, »eine Gemeinschaft, in der es allen Menschen gutgeht, in der niemand mehr Hunger leiden muß und niemand unterdrückt wird«, nicht wie Phrasen, wie so oft bei den Vertretern der Betonfraktion. Philipp glaubte an die Zukunft. Sie gehörte dem Sozialismus – und sie gehörte ihnen, den »Heldenkindern«, den Kindern von Menschen, die für die Verwirklichung ihrer Ideale Unvorstellbares durchlitten hatten. Wenn Philipps Augen wie jetzt leuchteten, wenn die Begeisterung, daß er dabeisein durfte in den Kämpfen dieser Zeit, die gesetzmäßig in ein Morgen ohne Ausbeutung und Not führen würden, seine Wangen färbte, wurde er schön, ein wenig ähnelte er dann, mit langem Haar und allerdings Hut statt sternbesetzter Baskenmütze, seinem Vorbild Che Guevara. An diesem Punkt brachen für gewöhnlich die anderen Töne durch, denn er, Philipp, und andere vergleichbarer Herkunft, seien die Kinder von Siegern der Geschichte, von echten Revolutionären eben, die nicht nur Theorie, sondern, vor allem, Praxis getrieben hätten – »während sich die Kleinbürger und Schißhasen und viel Pöbel, für den Leute wie meine Eltern ihr Leben in die Schanze geschlagen haben, hinterm warmen Ofen verkrochen und alles, wofür sie angetreten waren, verrieten«. Die Frage, ob der von Philipp mit abfälligen Handstrichen bedachte »Pöbel« nicht auch zur Arbeiterklasse, zum Volk gehörte, für das er und seine
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