Der Turm
unterbrochen; Burres Mutter war erst nach dem Tod ihres Sohns informiert worden. Das war der »Fall Burre«, der Fall Hoffmann stand noch aus. Aber das war ein Traum, es konnte nicht anders sein. Das stimmte ja alles gar nicht. Burres schlaffer, halb noch in der Luke steckender Körper, während der Bergepanzer schon zog. Die plätschernde Finsternis, das hilflose Herumgerudere des Richtschützen über ihm, bis er ihm einen Tritt verpaßt hatte: Verschwinde, kriech rüber auf die Ladeschützenseite oder hinter die Kanone, mach die Luke auf und steig aus, aber laß mich an Jan Burre ran. Wenn das stimmte: Wie konnte er dann hier draußen stehen, auf dem Grüner Bahnhof, und in seiner Ausgangsuniform auf einen Zug aus Leipzig warten? Leute starrten ihn an. Man konnte diese Sachen nicht tragen, selbst in einem Garnisonsstädtchen wie Grün nicht, ohne feindselige und verachtungsvolle Blicke zu erhalten. Aber ich bin doch keiner von denen! hätte er am liebsten gerufen. Mir sind diese Sachen so verhaßt wie euch! Das müßt ihr doch wissen, viele von euch haben doch selbst gedient! Das graublaue Hemd aus schlechtem Stoff mit den stumpfen Aluminiumknöpfen, an dem die »Affenschaukel« baumelte, die silberne geflochtene Schützenschnur, bei manchem, der mehr Ehrgeiz hatte als er, steckte noch das Militärsportabzeichen, die Schützenspange auf der Brust; die Schirmmütze mit Plastblende und billig gearbeiteter Kokarde, die grauen Filzhosen und die schwarzen Halbschuhe, deren Plaststeg geputzt zu sein hatte – alte Wehrmachtstradition, erinnerte sich Christian, hatte man ihnen auf der Unteroffiziersschule bedeutet: Am Steg gab es bei den Knobelbechern die Nähte, und wehe, Rußland, wenn die nicht gefettet waren! Nähzeug hatte man ebenfalls mitzuführen: ein möglicher Riß in der Hose war der Würde des Armeeangehörigen und damit der Bewaffneten Organe abträglich und mußte sofort geflickt werden.
Der Zug, meldete eine mürrische, wie aus Filz gemachte Stimme, hatte Verspätung. Aber jetzt sank das Licht, zog sich zurück, schien Na, das ist nun deine Sache, zur Dämmerung zu sagen.Diese Stunde mochte Christian am liebsten. Die frühen Morgenstunden, wenn die Luft noch frisch und seidig feucht war wie ein empfindliches, eben dem Fixierbad entnommenes Foto, hatte er früher ebenso gemocht; aber diese Stunden gehörten ihm nicht mehr, es waren seit anderthalb Jahren die Stunden der Pfiffe und schrillen Schreie, der beginnenden schrecklichen Tage. Dieses Welken, kaum merkliche Verschwinden war etwas anderes. Der Bahnhof mit seiner schmutzigen Halle, den aschebestäubten Bahnschwellen, dem Geruch nach Toilette, Mitropa und Kohle, schien das feiner werdende Licht zu trinken und sich allmählich damit zu füllen, bis er, rostrot bestäubt von den Aschewinden, ganz zu einer ungiftigen Kupferblüte geworden war. Es genügte, für diesen Augenblick, die Arme auszubreiten, um fliegen zu können – er wußte es voller Freude und Genugtuung. Auch den anderen Menschen auf den Bahnsteigen schien es so zu gehen, er sah Arbeiter die Brust recken, mit wippendem Gang auf- und abstolzieren, dann, als das Bewußtsein, beobachtet zu werden, zurückgekehrt war, verlegen an ihren Overalls zupfen; er sah die Bahnhofspenner ihre Bierflaschen prüfend ins Licht halten; und die zwei Uniformierten der Transportpolizei hatten auf einmal läßlich kreisende Stöcke. Und er – er hatte Alpenveilchen. Im »Centraflor« am Bahnhofsvorplatz besorgt, wo gerade eine Lieferung von einem LKW abgeladen worden war; hunderte Töpfe Alpenveilchen; keine Schnittblumen.
Reina stieg aus dem letzten Waggon des eben einfahrenden Zugs. Christian winkte verlegen, wartete ab, ging zögernd; plötzlich fand er dieses Treffen unpassend, den Topf mit Alpenveilchen, den er zwischen den Händen hielt wie ein Körbchen voller Bienen, lächerlich; die violetten, rückgestülpten Blüten wackelten wie von Sinnen im abendleichten Wind. Momentlang dachte Christian an Ina in Berlin, sein Hochzeitsgeschenk für sie und die linkische Geste, mit der er es ihr in die Hand gedrückt hatte. Er hob den Topf, gleichzeitig hatte auch Reina ihr Mitbringsel gehoben; im Unterschied zu ihm hatte sie ihre Alpenveilchen ausgepackt; und während sie »Hallo, Christian« und »Tach, Reina« tauschten, wechselten sie auch die Alpenveilchen-Töpfe. Reina hob die Schultern, kratzte sich am Oberarm, suchte nach einem Insektenstich, und Christian fiel nichts ein, was er jetzthätte sagen
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