Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
noch, von da holen wir Wasser für die Eimer, mit denen wir spülen. Schwedes unter uns haben ja diesen ingeniösen Wasserrohrerwärmungsring (eine Glanztat von Herrn Stahl), der nur den Nachteil hat, von der Elektrizität abhängig zu sein. Wäre der Strom nicht ausgefallen, wären die Rohre nicht eingefroren. (Aber ich habe ja noch das Kurbel-Grammophon.) Die Kommunale Wohnungsverwaltung wollte den Wasserrohrerwärmungsring sofort nachbauen lassen – aber, Gott, wer soll denn das tun. Wenn Du wieder da bist, besuch’ mich doch mal in der Praxis; ich nehm’ Dich mit auf Hausbesuch. Oder in den Freundeskreis Musik, wir haben wieder schöne Platten aufgetrieben. Die Zschunke bleibt auf all ihrem Gemüse sitzen seit Tschernobyl. Der Reaktorunfall ist das große Gesprächsthema in der Stadt. Offiziell wird abgewiegelt. Aber das Tal der Ahnungslosen grenzt nun mal an die Hügel mit Westfernsehen. Auf bald! grüßt herzlich Dein Niklas«

    dann blieb der Motor stehen. Die Lenzpumpe gurgelte nach, dann verstummte auch sie. Das Licht raspelte, brannte aber weiter, Christian konnte die Konturen der anderen noch erkennen. Die Zurrstange der Kanone glänzte unnatürlich weiß. Das Wasser stieg langsamer, eine dunkle, wie mit knisterndem Zellophan bespannte Masse, friedlich begann es eine Splitter-Spreng-Granate zu verschlucken.
    »Jan?« Der antwortete nicht. »Jan!« brüllte Christian. Der Richtschütze schüttelte den Kopf. »Kann ihn nicht sehen.«
    »Neu starten!«
    Niemand antwortete. Das charakteristische Aufrumpeln des Motors, nach dem Knall der Preßluftzündung, blieb aus. »Bergewelle einstellen!« Auch da rührte sich nichts. Dabei war es still, und die Wärme war jetzt angenehm. Wenn sie aussteigen mußten, dann so, wie sie es vorher geübt hatten, imTauchkessel im Objektschwimmbad, eingeschlossen in einer gefluteten Stahlkammer, Schwimmbrillen und Rettungsgeräte aufgesetzt, atmend, panisch die anderen, nicht er, Christian Hoffmann, Sohn eines Schlossers und Unfallchirurgen. Die Geräusche unter Wasser kamen verzögert, hallten schläfrig nach, Schraubenschlüssel-Schläge dienten der Verständigung. Luke entriegeln, ruhig im wassergefüllten Zylinder nach oben steigen – keine Panik, das war das Wichtigste. Panik zerstörte alles, machte den geregelten Ablauf unmöglich. Den Algorithmus, hätte Baumann gesagt, der apfelbäckige Mathematiker aus Waldbrunn. Warum gerade der einem jetzt einfiel. Was war mit Burre los? Warum meldete er sich nicht? Christian bedeutete dem Richtschützen, nachzusehen. Der wies auf das kletternde Wasser, er saß nun bis an die Knie darin. Aber jetzt ging das Licht doch aus.
    »RG-UF an.« Die Instrumente phosphoreszierten nach: Infrarotzielgerät, Funkskala, dieses blöde Thermometer, das der Richtschütze mitgebracht hatte und das gar nicht zur Standardausrüstung gehörte. Achtundsechzig Grad im Panzer. Sie mußten aussteigen. Er schlug gegen die Turmwandung, vielleicht hörte ihn jemand vom Bergeboot, vielleicht war der Schlepperkommandant erfahren genug, um zu sehen, was passiert war. Weiße Boje vorn, rote Boje hinten. Trossen auf die Unterströmungsseite legen, sonst werden sie gegen den Turm gedrückt und können sich verdrehen. Es war dunkel, aber er bekam Luft. Gerade jetzt fiel ihm ein Goethe-Vers ein. Weiß wie Lilien, reine Kerzen, / Sternen gleich, bescheidner Beugung, / Leuchtet aus dem Mittelherzen / Rot gesäumt, die Glut der Neigung. Chinesischdeutsche Jahres- und Tageszeiten. Er murmelte vor sich hin. Er hörte das Boot, jemand klopfte gegen das UF-Rohr. Christian klopfte zurück: wartet. Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll, ein Fischer saß daran. Wenn Burre versucht hatte, durch die Ausstiegsluke unten in der Wanne rauszuklettern, konnte der Panzer ihn zerquetschen, wenn der Schlepper an der Bergetrosse zog –

    »Liebe Reina: Danke für Deinen Brief. Vielleicht können wir uns sehen. Es hat einen Unfall gegeben. Mein Fahrer ist bei einer Übung verunglückt und im Lazarett gestorben. Ich habe eineDummheit gemacht, meinen Kompaniechef angegriffen. Jetzt bin ich wieder in der Kaserne, weiß nicht, was sie mit mir machen wollen. Es ist möglich, daß ich Ausgang bekommen kann, denn fast das ganze Regiment ist noch auf Übung, und ich habe zwar offiziell Kompaniearrest, kenne aber den Schreiber recht gut, der die blanko unterschriebenen Urlaubsscheine verwaltet. Bitte sage meinen Eltern nichts. Viele Grüße von Christian«

56.
Man wiederholte vielleicht

Weitere Kostenlose Bücher