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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Alpenveilchentopfs, dann gab er ihr einen Beutel, den sienachdenklich nahm. Ein Schrank stand auf dem Bahnhofsvorplatz, und Christian hätte es ganz natürlich gefunden, wenn sich die Schranktüren geöffnet hätten und ein mageres weißäugiges Mädchen erschienen wäre. »Sie haben noch nichts beschlossen. Es wird eine Verhandlung geben, Militärgericht. Wir sollten über anderes reden.«
    »Ich war bei deinen Eltern.«
    »Das hast du geschrieben.«
    »Soll ich wieder fahren? Du bist so abweisend.«
    »Nein. Nein.« Und dann noch ein anderes Wort, das auszusprechen ihn größte Überwindung kostete, aber gerade deshalb wollte er sehen, was geschah, wenn er es aussprach: »Entschuldige.« Es ging ihm einigermaßen leicht über die Lippen, und er mußte an Waldbrunn denken, seine Spaziergänge an der Wilden Bergfrau, seine Überheblichkeit, die Verena gegolten hatte.
    »Wohin gehen wir?« Reina blickte sich um, was sie sah, schien ihr nicht zu gefallen.
    »Weiß nicht. Hast du einen Vorschlag? Ich kenne mich hier kaum aus. – Kino?« sagte er, in der Hoffnung, daß sie dort nebeneinandersitzen, irgendeinen gleichgültigen Film sehen, schweigen würden. Schweigen war das beste. Einer dem anderen nah, einfach nur nah, ohne Worte. Reina lehnte ab: »Dort können wir uns nicht unterhalten. Ich möchte mich gern mit dir unterhalten. Vielleicht … vielleicht hat das zu fordernd geklungen: Wohin gehen wir. Das war nur … «
    Sie kamen am Kino vorbei, es war das einzige Kino der Stadt. Es liefen sowjetische Märchenfilme: Die feuerrote Blume, Gharib im Lande der Dschinn. Wenn er Ausgang hatte, ging Christian gern ins Kino. Es erinnerte ihn an die Tannhäuser-Lichtspiele. Das Dach war schadhaft, durch eine Lücke fiel an schönen Tagen das Sonnenlicht ein, an schlechten der Regen – an den schönen Tagen wurde ein schwarzer, per Bindfaden dirigierbarer Regenschirm an Luftballons unter das Loch gehoben, an schlechten ein Eimer untergestellt.
    »Du hast mich immer Montechristo genannt. Über meinen richtigen Namen mußtest du lachen.«
    »Ich habe deinen Eltern nichts gesagt, wie du gewollt hast. Aber meinst du nicht … Dein Vater könnte was für dich tun.«
    »Nein. Sie haben so schon genug Sorgen. Vor allem meine Mutter. – Wir könnten was essen gehen. Ich lad’ dich ein.«
    »Verena hat die Ausreise laufen. Sie ist auch in Leipzig, ich seh’ sie manchmal.«
    »Das könnte dir schaden.«
    »Ich hatte schon ein Gespräch beim Studiendekan. Das Gespräch führten zwei von denen. – Aber sie ist meine Freundin, die können mir doch nicht verbieten, sie zu sehen.«
    »Doch, das können sie. Sie können auch anders. Ich hab’ was gehört: Der Junge, der gestorben ist, hat angeboten, für sie zu spitzeln, wenn sie dafür sorgen, daß er versetzt wird. Haben sie gesagt: Gerade dort, wo Sie sind, brauchen wir sie, Genosse Burre. Natürlich werden wir Sie schützen, wir wissen, was Soldatenethik bedeutet. Die können, wie sie wollen.« Sie gingen über den Marktplatz zum Brunnen, ein vierköpfiger wasserspeiender Greif aus schwarzem Sandstein. »Und Siegbert?« fragte Christian.
    »Sie sind auseinander.« Das war nicht mehr die selbstsichere, manchmal hoffärtige Reina, die er gekannt hatte. Sie wirkte verschreckt, vorsichtig, blickte sich oft um, musterte die Vorübergehenden, die Polizisten, die über den Marktplatz schlenderten. »Weißt du, ich wollte dir immer schreiben, aber ich habe mich nicht getraut. Es hat sich so vieles verändert. Wir kamen aus der Schule und … naja, das klingt jetzt vielleicht komisch … so naiv. Vielleicht waren wir so. Ich meine, ich wußte schon, daß ich nicht alles sagen durfte, zu Schnürchel nicht und zu Roter Adler nicht und zu Fahner schon gar nicht. Und ich hab’ mich gefragt: Warum eigentlich nicht? Das sind doch Kommunisten, die wollen ehrlich sein … Und wir? Warum reden wir zu Hause so und in der Schule ganz anders … beten unsere Sprüche ab, um nicht anzuecken? Aber wieso eckt man an, wenn man eine Meinung hat, die anderen Meinungen zuwiderläuft? Und wieso gibt es diesen Widerspruch: Da die Wirklichkeit – dort das, was darüber geschrieben wird, und das sind zwei völlig verschiedene Dinge? Ich war so blind, ich … habe nichts gewußt. Manchmal saß ich im Wohnheimzimmer, hab’ an dich gedacht, und daß du mich wahrscheinlich verachten wirst für meine Ahnungslosigkeit. Aber du … du hast auch Glück gehabt –«
    »Hat mir Siegbert auch mal vorgeworfen.«
    »Ich

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