Der Turm
können; er suchte krampfhaft nach einem Kompliment, aber was ihm einfiel, war ausgerechnet, daß die Narbe an ihrem Hals die Zartheit der Haut, die liebevoll gestreuten Würfe der Sommersprossen betonte. Das aber wollte er nicht sagen, einfach so. Es hätte sie noch mehr verwirrt und noch scheuer gemacht, als sie schien: unschlüssig wartend, denn nun war sie angekommen, und nun stand die Frage im Raum, was man tun solle, in einer fremden Stadt, die auch Christian nur von ihrer Bahnhofsseite kannte – Kaserne, Metallwerks- und Chemiegerüche, die »Feuchte Fröhlichkeit« waren nicht der feste Ort, den man kennt, weil man zu Hause ist.
Reina war da; er hatte nichts erwartet. Sie hatte sich in den anderthalb Jahren seit der EOS verändert, die Frau schimmerte durch die noch mädchenhaften Züge, sie hatte eine andere Frisur: diese Änderungen fand Christian seltsam erregend, und da er sofort darüber nachzudenken begann, trottete er mit gesenktem Kopf und schweigend neben Reina her, spürte aber ihre Pein, die sie mit Worten zuzudecken versuchte, die ihn nicht erreichten. Was wiederum sie spürte. Er wußte es nicht genau, glaubte, für einen Moment, daß er sie ein wenig ärgern wollte – dann war sie am hübschesten. Sie hatte sich kaum zurechtgemacht, dafür empfand er Dankbarkeit. Die neue Frisur, ein bißchen aufgedonnert war das ja schon, mochte die große Stadt mit sich bringen. Das und die Fraulichkeit auf ihren Zügen machten Reina über das Maß hinaus fremd, das er erwartet und sich vorgestellt hatte, genau das war das Erregende, nicht ihr Geruch, ihre Stimme, nicht die Blicke der anderen auf dem Bahnsteig, die erwachend über Reina glitten und sich zu Geringschätzigkeit zurücknahmen, vielleicht auch nur Gleichgültigkeit, wenn sie Christian betrachteten: Ich gehöre dir nicht mehr, schien Reinas Fraulichkeit zu sagen, und weckte Begehren, Besitzinstinkt. Sie schwieg; sofort schneckte er sich ein, noch mehr, als es das unhöfliche Schweigen schon getan hatte, das für sie die Begegnung zur Arbeit, zur anstrengenden Suche nach Anknüpfungspunkten machte, ihr das Entgegenkommen überließ; und nun wurde er bitter, entschied, daß es ein Fehler gewesen war, Reina zu treffen, noch dazu in seiner Situation.
Christian suchte die Schatten, blickte nervös nach links undrechts, hatte den tänzelnden, fluchtbereiten, manöverreichen Gang derer, die sich verfolgt glauben, angenommen. Manchmal duckte er sich rasch, ballte die Fäuste, als ob in der leeren Luft dazwischen (die Alpenveilchen hatte er im mitgebrachten Panzertornister verstaut) etwas hockte, das er nur so abzuwehren vermochte; manchmal trat er abrupt einen Schritt zurück, was Reina, wie er bemerkte, zuerst irritierte, dann nur unangenehm zu sein schien; aber er wich da nur einem vorausgeahnten Lichteinfall aus, einer noch unsichtbaren Strafe, die er nicht kannte und nicht hätte erklären können; sie würde auf jeden Fall kommen, vielleicht hatte sie sogar ein Gesicht und beobachtete ihn schon, er konnte tun, was er wollte, sie würde ihn treffen, und anders, in anderer Form als erwartet. Aber auch er konnte sich unerwartet verhalten, hier einem Fleck gerade nicht ausweichen, da fünfzehn Schritte schnurstracks vorwärts gehen und plötzlich nach links zur Seite schwenken, weil die Strafe gedacht hatte, so, jetzt hab’ ich dich, beim sechzehnten Schritt gehörst du mir – doch er war ebenda zur Seite ausgewichen, der Speer hatte also ins Leere gestoßen! Christian begriff, daß Reina nun stehengeblieben war.
»Du bist so eigenartig, was ist los? Ich glaube, du hörst mir gar nicht zu.«
Das stimmte. Der Leuchtschriftzug über der Bahnhofshalle warf freudig, wie ein euphorischer Sämann Getreide auf den Acker, ein »Willkommen in Grün – Perle des Westerzgebirges!« wieder und wieder aus, unbekümmert darum, daß der Boden blaß war von sorgfältig zerrissenem Zeitungspapier. Reina würde jetzt nicht zu weinen beginnen. Die schüchterne Reina, wie sie geschrieben hatte; sie begann sich in der spöttischen Reina, die bis zur verletzenden wachsen konnte, aufzulösen; es tat ihm leid, und doch fühlte er sich außerstande, es ihr leichter zu machen. Er war wie gelähmt, er hätte zwar Worte gewußt, aber die mußten über die Zunge, und die war klumpig und steil, die Worte wollten nicht drüber.
»Dein Brief, haben sie schon … Ich habe deinen Brief bekommen.«
Ja: nickte er, sah nur kurz auf das Spiel ihrer Finger am Rand des
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