Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
nahm Christians Fingerabdrücke. Auf den Daumen schlug er leicht mit der Faust. Das Stempelkissen war kaum noch mit Farbe getränkt.
    Christian kam nicht zurück in die Straßenbahn. Der Posten schloß, im fünften Stock, eine der grauen Eisentüren auf. Mit schwarzer Farbe, durch eine Schablone, war die Zellennummer aufgespritzt.
    »Inhaftierter Hoffmann, Sie haben einen Meter vom Posten entfernt zu stehen bei Auf- und Zuschließen der Tür!« schrie der Blauuniformierte. Er stieß Christian in den Raum. Zwei andere waren schon darin, sie standen ruckartig auf, Hände an die Hosennaht; der Ältere meldete: »Verwahrraum Fünf-Null-Acht mit zwo Inhaftierten belegt, zwo Inhaftierte anwesend, keine besonderen Vorkommnisse!«
    Christian bekam sein Deckenbündel, ein Blatt Papier und einen Bleistift. Er sollte seinen Lebenslauf schreiben. Mutter, Vater, wann wurde ich Jung-, wann Thälmannpionier, wann Mitglied der Freien Deutschen Jugend. Hobbies, schulischer Werdegang, Berufswunsch.

    Der Verwahrraum . In der Zelle gab es drei Pritschen, zwei Hängeschränke, ein Waschbecken, einen Spiegel, einen heruntergeklappten Tisch, daneben ein Toilettenbecken mit Rohr und Zugkette aus weißen Plastgliedern, unten ein schwarzer Plastgriff. »Deins ist das Bett hinten, Junge. Ich bin Kurt, und das ist – na, sag selber deinen Namen.«
    »Korbinian Krause«, sagte der Jüngere.
    »Christian Hoffmann.«
    »Deine Nummer? Kannst übrigens Kurtchen zu mir sagen.«
    »Zwo-zwanzig.«
    »Der hier«, der Ältere nickte dem Jüngeren zu, »sitzt wegen Zwodreizehn. RF. – Republikflucht. Und ich – na, so dies und das.« »Kurtchen ist ein Mörder«, brummte der Jüngere mit dem seltsamen Namen Korbinian.
    »Naja, übertreib mal nich. Ich hab’ einen totgeschlagen, das stimmt schon. Aber das war im Zorn, verstehste. Im Zorn – das ist was anderes. Im Zorn, da weißte nich, was du tust. Da wird alles erst rot, dann schwarz, verstehste.«
    »Weil du den Weg zu Gott nicht gefunden hast, weil dein Ohr hart ist, Bruder.«
    Der Ältere grinste, nickte über den Daumen zu Korbinian, der nicht so aussah, als ob er im Scherz geredet hätte. »Das is’ so seine Masche, verstehste. Er ist nämlich ’n Prediger.«
    »Ich habe Theologie studiert, ich bin kein Prediger. Prediger heißt’s bei den Methodisten und Baptisten; hier heißt’s Pfarrer oder Seelsorger. Du hast noch nicht gebeichtet, Kurtchen.«
    Kurtchen nickte, schmunzelte. »Ich mach’s ihm zu Gefallen, verstehste. Hat er seinen Frieden. Und manchmal – na, da hilft’s tatsächlich. Sich alles mal von der Seele reden.«
    »Das mit dem Totschlag war sein eigener Bruder. Kurtchen war Tischler, Arnochen war Tischler. Sie hatten ihre Werkstätten gegenüber und konnten sich leiden wie Hund und Katze. Und eines Tages sind sie mit Äxten aufeinander los. Die von Arnochen ging in Kurtchens Kredenz. Die von Kurtchen ging in Arnochens Nischel.«
    »Nee. In ’n Hals ging se. Du sollst nich falsch’ Zeugnis reden, oder wie’s heißt. – Aber du«, wandte er sich an Christian, »wo kommst’n her? Was hast’n so gemacht?«
    »Dresden … Abitur«, stammelte Christian.
    »Abitur … Das is’ gut. Da biste gebildet, da haste Phantasie …« »Kurtchen braucht jemand, der ihm beim Masturbieren behilflich ist«, sagte Korbinian.
    »Verurteile mich nich!« Kurtchen drohte mit dem Zeigefinger. »Ich bin schon lange ohne Frau, und bin ein Mensch von starkem Triebe. Und wenn du mir was Gutes erzählst, ist’s ’neErleichterung für mich, und du kriegst drei Tütchen für. Aber schön heiß musses sein, richtig mit Abwechslung und so. Am besten mit Filmstars, da weiß ich, von wem du redest.«

    Das Warten . Die Worte waren verschwunden, sie kehrten nur langsam zurück, wie Fische, die sich träge wieder sinken ließen, nachdem sie ein Netz in die tödliche Helligkeit gehoben und eine Hand sie zu leicht befunden hatte. Kurtchen, den Christian nun auch so nannte, ertrug das Warten schlecht. Er wartete auf seine Verhandlung, um endlich in den Vollzug zu kommen, wo es (er bestätigte die Meinung des Mannes aus der Straßenbahn, dem Christian eine Zigarette schuldete) besser war als in der U-Haft. Besser, weil klarer. Klarere Verhältnisse. Die SVer (so hießen die Posten, es war die Abkürzung von Strafvollzug) mußten keine Zweifel mehr haben und keine Skrupel. Sie hatten sie auch hier nicht, wie Kurtchen sagte. Aber dort, im Vollzug, war alles klar – und da alles klar war und Zeit zu sich

Weitere Kostenlose Bücher