Der Turm
selbst kam und nicht mehr Warten war auf etwas anderes, konnten die SVer völlig korrekt sein. Auch der Kalfaktor war korrekt. Das war der Häftling, der das Essen brachte und, einmal in der Woche, den Bücherkarren. Die Häftlinge durften lesen. Christian lieh sich die Autobiographie des Genossen Generalsekretärs. Das vertraute Gesicht blickte ihm von den Fotos entgegen, vertraut von den Himmelblaubildern in Klassenzimmern, Amtsstuben, Plakaten bei den Maiumzügen und den Feiern zum Geburtstag der Republik. Das vertraute Gesicht war einmal das eines Kindes gewesen, in einem Haus im Saarland. Bedrückende Umstände, viele Geschwister, Kindersterblichkeit, Hunger, frühes Geldverdienenmüssen, der vorzeitig gealterte Vater, die Mutter eine fürsorglich wirkende Frau mit eingefrorenem Lächeln. Die Zustände in den Fabriken. Kommunistischer Jugendverband. Fanfaren, Schalmeien. Krieg, Nachkrieg, Inflation. Kleiner Mann, was nun. ’33. Illegalität, Verhaftung, Gestapo, Verhöre, Gefängnis. Christian hatte diese Geschichten (sie wiederholten sich in geringfügigen Variationen in den Biographien der Führenden Vertreter) immer gehaßt; er hatte davon nichts wissen wollen. Hatte die Kriegsfilme an den Donnerstagen, Fernsehen der DDR 2, abgeschaltet; Katjuschas mit Untertiteln, Helden am StillenDon, Pathos, das sich kaum von dem der Nazis unterschied. Er dachte an Anne. »Gute Nacht«, hatte sie gesagt, als er ein Kind gewesen war, vor, wie ihm schien, bergwerkstief zurückliegender Zeit. Ihm fielen Sätze ein, er versuchte Anne diese Sätze sagen zu lassen – dann verschwanden die Worte, Anne verschwand. Ermahnungen, Berührungen, verstohlen. Immer hatte sie ihn und Robert nur verstohlen berührt – als käme ihr diese Zärtlichkeit nicht zu. Hin und wieder ein unauffällig abgelegtes Geschenk, etwas, »das man brauchte«, Sachen aus dem »Exquisit«, eine Dose Ananas aus dem »Delikat«. Ein ergattertes Buch, von dem er beiläufig gesprochen hatte.
Der Kalfaktor brachte das Essen. Es war jeden Tag das gleiche: undefinierbare Marmelade, auf der manchmal kleine Schimmelpilzdrusen wuchsen: dann wies Kurtchen darauf hin, und Korbinian sprach das Wort »Haftbeschwerde« aus. Dann erschien ein SVer und stellte mit verächtlicher Miene neue Marmeladetöpfchen vor die Inhaftierten. Es mußte seine Ordnung haben . Es mußte korrekt sein. Es mußte zügig gehen. Der Spion in der Tür, ein Fensterchen mit einer Stahlklappe außen, wurde stündlich geöffnet; aber jede Stunde zu wechselnder Minute. Die Stahlklappe quietschte beim Öffnen und schlug mit klackendem Geräusch zu. Tütchen, wie Kurtchen gesagt hatte, waren Papirossy, in Zeitungspapier gewickelter, billiger Krümeltabak. Nach einer Woche überwand Christian seinen Abscheu, und siehe da, sie schmeckten nicht schlecht. Leim und Druckerschwärze, oft Einlassungen des Genossen Generalsekretärs oder eines der Führenden Vertreter, gaben dem Tabak eine zusätzliche, verbrannt schmeckende Note. Als Kinder hatten Christian, Robert und Ezzo Efeustengel von der Gartenmauer der Karavelle zu rauchen probiert, sie hatten ähnlich wie diese Papirossy geschmeckt. Christian borgte sich den Tabak von Kurtchen. Er hatte kein Geld, wozu man hier Einkauf haben sagte. Kurtchen gab ihm großzügig, er meinte, er würde bald Einkauf haben; die Abiturienten, die er auf der Kohleninsel kennengelernt habe, hätten immer Angst gehabt und gut gearbeitet; man bekomme Lohn, wenn auch nicht viel.
Der Lichthof . Zur Freistunde , vormittags, mußte man zügig heraustreten (ein Meter Abstand zum Posten) und zügig laufen. Es gab einen asphaltierten Lichthof; ein gepflasterter Weg und hohe Betonmauern mit einwärts geknickten Stacheldraht-Faschinen säumten ihn im Karree. Den Himmel über dem Lichthof rasterte ein Gitter. In der Mitte des Gitters war eine Aussparung, durch die Aussparung ragte der Stamm einer Linde. Die Linde duftete betäubend, aber es lagen keine Blüten auf dem Boden; unter der Lindenkrone war ein Netz gespannt, in dem sich herabgefallene Blätter und Blüten sammelten; es gab auch Vogelnester darin, aus denen es behaglich tschilpte. Eine Rundbank umfaßte den Lindenstamm, aber nie saß jemand darauf. Die Inhaftierten liefen im Kreis, immer links herum, zügig, und ohne zu sprechen. Tabak wurde getauscht, eines Tages gelang es Christian, der Mann aus der Straßenbahn war unauffällig plötzlich hinter ihm, seine Zigarettenschuld zu begleichen. Manchmal brüllten die Posten, sie
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