Der Turm
langweilten sich.
Die Messer, die zum Essen gereicht wurden, waren stumpf. Die Klammerzange, mit der Christian Papier zu heften hatte, war so konstruiert, daß das Fach, in das die Klammern geschoben wurden, nur mit einem Schlüsselchen, das der Posten in Verwahrung hatte, zu öffnen war. Waren die Klammern verbraucht, mußte Christian warten, bis der Spion geöffnet wurde und er ein Zeichen machen konnte. Die Wartezeit wurde nicht auf die Norm angerechnet.
Sprecher . Christian bekam einen Brief. Rechtsanwalt Sperber schrieb, daß er auf Bitten der Eltern die Verteidigung übernehmen würde.
Sprecher. Besuch für Kurtchen. Kurtchen hatte eine Freundin. Die Freundin machte Schwierigkeiten. Sie wolle gebumst werden, erklärte Kurtchen, und er sei ja nicht da. Kurtchen hatte sich was ausgedacht und erbat Christians Rat, denn er habe Abitur und Phantasie. Christian wollte ihm den Rat nicht geben, denn sehr zuwider waren ihm die Abende, an denen Kurtchen das Wort Phantasie aussprach. Da legte Kurtchen das Gesicht in Falten und erklärte, er wolle nicht jähzornig werden.
»Soll ich mein’ besten Kumpel drüberlassen, was meinst?«
»Vielleicht … gibt’s erst mal andere Möglichkeiten«, wich Christian aus.
»Nee, die gibt’s nich mehr. Sie hat ’n Dildo, von drüben. Aber nu willse ebend auch ’n Kerl zu dem Ding. ’s gibt auch keine Batterien für. Und immer bloß Phantasie reicht ihr nich mehr, sagtse.«
»Na, wenn’s der beste Freund ist –«
»’s bliebe ebend in der Familie. Hab’ ich mir auch schon überlegt. Dann werd ich’s ihr mal so sagen, weil du’s sagst. Kriegst’n Tütchen für. Soll ich ihr schöne Grüße von dir bestellen?«
Anwaltssprecher . Sperber war sehr gut gekleidet, glänzender Anzug, fliederfarbenes Hemd, eine flache goldene Armbanduhr, die er mit dem Ziffernblatt nach innen trug und hin und wieder zum Handgelenk schüttelte. Das »Bonbon« steckte im linken Revers-Knopfloch. Schlaffer Händegruß, es fühlte sich an, als ob Christian ein rohes Kotelett statt einer Hand gedrückt hätte. Sperber bot Christian Zigaretten an. Er wisse vom Vater, daß er nicht rauche, aber das sei ja die gängige Währung hier. Christian hörte nicht genau hin. Ihn faszinierte des Rechtsanwalts Geruch. Der kam von draußen. Er hatte nicht gewußt, daß die Welt draußen einen Geruch besaß, der sie deutlich von der Welt hier drinnen unterschied. Dabei kam dieselbe Luft durch die Fenster, und nachts manchmal der Geruch der Linde. Aber die gehörte hierher – ihr Geruch war so stark, daß er verhöhnte.
Sperber hatte in Christians Akten Einsicht genommen . Noch könne er, außer den Zigaretten, nichts tun.
»Wir müssen die Anklageschrift abwarten. Sie werden angeklagt werden, junger Mann. Und bis zur Anklage bleiben Sie auch in U-Haft. – Ihre Eltern machen sich große Sorgen.« Sein Ton wurde väterlich-bekümmert, dann leise tadelnd. »Sie wissen doch, wo Sie sind. Wie können Sie sich nur derart hinreißen lassen. Das hat Ihr Vater Ihnen doch beigebracht. Denken Sie nur an die Lektionen bei Herrn Orré. Soll denn das völlig umsonst gewesen sein?« Das wußte der Rechtsanwalt also. Jetzt lächelte er, Christians Frage vorwegnehmend: »Das spricht sich doch herum, Herr Hoffmann. Aber Sie haben eine große Dummheit gemacht. Sie machen überhaupt, so kommt es mir vor, häufig Dummheiten.«»Ich habe es nicht so gemeint.«
»Wie Sie es gemeint haben, ist völlig gleichgültig. Entscheidend ist, was in den Akten steht, und der Wortlaut wurde von Ihnen unterzeichnet.«
»Aber die Situation –«
»Gerichte beschäftigen sich nicht mit Situationen«, unterbrach Sperber Christian mit einer kameradschaftlichen Handbewegung. »Sondern mit nachprüfbaren Fakten. Ich habe Verständnis für Sie, durchaus, aber Verständnis nützt uns nichts.«
»Herr Doktor Sperber«, Christian kämpfte plötzlich mit den Tränen, was den Anwalt zu genieren schien; seine Miene wurde kühler. »Was wird mit mir passieren?«
»Wir müssen das abwarten. So schlecht sieht es gar nicht aus, junger Mann. Machen Sie sich mal jetzt keinen Kopf. – Wollten Sie schon immer Medizin studieren?«
»N-nein«, antwortete Christian überrascht.
»Gut. Sie haben also noch Alternativen. Es ist besser, sich nicht so zu versteifen. Na, Kopf hoch, junger Mann. Wird schon wieder, ich tue mein Bestes.«
Warten . Christian wurde dicker, die Haut nahm einen teigigblassen Ton an.
»Das ist das Essen und der Bewegungsmangel«,
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